Der „Fall des Philipp S.“ im Computernetz

■ Wegen eines unbestätigten Verdachtes jahrelang im Datenspeicher der Behörden gefangen / Alle Verfahren gegen den WAA- und Volkszählungsgegner eingestellt - doch die Behörden jonglieren mit „Restverdacht“

Aus München Luitgard Koch

Inzwischen weiß es Philipp S. schon vorher. Beim Grenzübergang muß der 23jährige Student damit rechnen, daß er aus der Schlange gewunken, sein Ausweis lange überprüft wird und er den Kofferraum seines Wagens öffnen muß. Eine halbe Stunde etwa dauert diese Prozedur. Seit vor zwei Jahren die Grenzpolizei in Rudolphstein in seinem Auto angeblich Broschüren fand, die nach Ansicht der Beamten von den „Revolutionären Zellen“ (RZ) stammen könnten, ist er das „Objekt der Begierde“ des staatlichen Überwachungsapparats. Ein Ermittlungsverfahren wegen Unterstützung bei den RZ wurde längst eingestellt. Drei Monate wurde sein Telefon „ergebnislos überwacht“, stellte sich bei der Verhandlung vor dem Bayerischen Obersten Landgericht heraus. Die Daten des Philipp S. bleiben dennoch in den Polizeicomputern. Lebenslang?

Um endlich zu wissen, wie eng das Datennetz sich schon um ihn zusammengezogen hat, schaltete Philipp S. Rechtsanwalt Harmut Wächtler ein. Dieser beantragte beim Bayerischen Landeskriminalamt (LKA) die Löschung der Daten aus der erkennungsdienstlichen Behandlung sowie Auskunft darüber, an welche Dienststellen und Behörden die Daten weitergegeben wurden. Anstelle Auskunft zu geben, verlangt das LKA erst einmal 60 DM Gebühr für die „Amtshandlung“. Zwei Monate später lassen sich die Herren dazu herab, zu antworten: Die „Angelegenheit (sei) zuständigkeitshalber an das Bundeskriminalamt weitergeleitet“ worden.

Ein „potentiell Verdächtiger“

Das BKA freilich will mit der Geschichte nichts zu tun haben. Für den Antrag auf Auskunft und Löschung der Daten seien doch die Bayern zuständig, teilen die Wiesbadener dem Anwalt mit. Die jedoch lassen fünfe grade sein und den Antrag verstauben. Erst als der Anwalt mit einer „Untätigkeitsklage“ droht, bekommt er - einen Ablehnungsbescheid. Dazu hat die Behörde immerhin fast ein Jahr gebraucht. Jetzt erst kann Philipp S. vor Gericht klagen.

„Bei der Speicherung dieser Daten handelt es sich, um einen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung“, argumentiert Anwalt Wächtler vor dem Verwaltungsgericht. Die Polizeibehörden können damit nichts anfangen. Für sie ist Philipp S. ein „potentiell Verdächtiger“, dessen Daten sie nicht mehr hergeben wollen. Wie sonst sollte das alte Motto aus dem Kultfilm Casablanca „Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen“ noch funktionieren? Nach wie vor bestehe ein „Restverdacht“, beharrt die Polizei. Außerdem zeige die „kriminalistische Erfahrung“, daß „politisch motivierte Straftäter Wiederholungstäter“ seien. Das Persönlichkeitsrecht von Philipp S. werde nicht eingeschränkt. Seine Daten würden ja nicht „an die Öffentlichkeit weitergegeben“, so die Begründung. Ihren „Restverdacht“ bezieht die Polizei auch aus weiteren, eingestellten Verfahren gegen den WAA-Gegner Philipp S. Das bayerische „WAAhnsinnsprojekt“ ist zwar längst passe, der Widerstand dagegen, stempelt Bürger immer noch zu Kriminellen.

Wackersdorfer

Folgen

An der zweiten Platzbesetzung in Wackersdorf nahm Philipp S. teil. Er verließ nicht gleich bei der ersten Aufforderung der Polizei das Hüttendorf. Ein Ermittlungsverfahren wegen Nötigung gegen ihn stellte die Staatsanwaltschaft wegen Geringfügigkeit ein. Der Widerstand gegen die Oberpfälzer Atommüllfabrik dauerte an. Und so erwischte es Philipp S. ein zweites Mal. Diesmal ging es um Landfriedensbruch. Philipp S. war einer der 273 Atomkraftgegner im Zeltlager in Hofenstetten. Morgens um sechs überfiel die Polizei die Schlafenden und nahm sie in Vorbeugehaft. Grund: Unter den Festgenommenen sei einer, der tags zuvor angeblich ein ZDF -Fernsehteam mit Steinen beworfen hätte. Unhaltbare Vorwürfe, das Verfahren gegen Philipp S. wurde wiederum eingestellt.

Als nächsten Trumpf und Argument für die Datenspeicherung zog die Polizeibehörde ein Verfahren wegen „Sachbeschädigung“ aus dem Ärmel: Philipp S. hatte nämlich vom Münchner Rathausturm Flugblätter gegen die Volkszählung geworfen. Darin wurde zum Boykott durch Abschneiden der Kennziffern auf den Volkszählungsbögen aufgerufen. Daß auch dieses Verfahren eingestellt und Philipp S. also nicht vorbestraft ist, interessiert die Ordnungshüter herzlich wenig. Wenn es nach ihnen geht, bleibt Philip S. im Polizeicomputer. Inzwischen muß er sich auch noch gegen den Verfassungsschutz wehren. Der nämlich wollte ihn als Spitzel anwerben. „Das ist wohl die unangenehmste Lage für Gerichte“, zuckt der Verwaltungsrichter mit den Achseln.

Achselzuckende

Richter

In Bayern, so das Gericht, bestehen nämlich immer noch keine rechtlichen Grundlagen für die Sammlung von Daten. Einen Tag vor diesem richterlichen Stoßseufzer peitschte jedoch die CSU-Regierung eine Verschärfung des Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes durch, um die Sammelwut der Behörden zu legimitieren. Für die Richter ein Grund die Verhandlung auszusetzen. Erst nach Inkrafttreten dieser Gesetzesänderung im Oktober wollen sich die Richter erneut den Kopf über den „Fall Philipp S.“ zerbrechen. Bis dahin jedoch kann es Philipp S. aufgrund der bayerischen Besonderheiten passieren, daß er zwei Wochen im Knast verschwindet. Dazu genügt, daß er vor einer Demo in eine Polizeikontrolle gerät und seine Daten ihn als „Störer“ ausweisen, der ohne weiteres in „Unterbindungsgewahrsam“ geschleppt werden kann. Zu seinem Recht auf Auskunft wird Philipp S. bis auf weiteres nicht kommen. Noch kurz vor Ende der Legislaturperiode verabschiedete die CSU ein neues Verfassungschutzgesetz: „Ein Auskunftsrecht über die beim Landesamt für Verfassungsschutz in Dateien oder Akten gespeicherten Informationen besteht nicht“, heißt es dort in Art. 11 unter der Überschrift „Auskunftserteilung“.