Raum für Kindlichkeit

■ NRW will „erzieherische Traditionen“ wiederbeleben

Düsseldorf (taz) - Kinder haben nichts zu sagen. Kinder dürfen nicht streiken. Kinder sind Schwerstarbeiter. Während für die Metallarbeiter demnächst nach 35 Stunden in der Woche Schluß ist, ackern 10 bis 12jährige wissenschaftliche Erhebungen gibt es reichlich - nicht selten 60 Stunden wöchentlich. Wahnwitzig ehrgeizige Eltern, Numerus clausus geschädigte Lehrer und eine Schulbürokratie, die mit ihren Richtlinienberg jede phantasie- und innovationsfreudige Pädagogin zur schlichten Verzweiflung bringt, haben sich seit Jahren gegen die Schwächsten der Gesellschaft verbündet. Zwar hat die Arbeitszeitverkürzung auch die Schule erreicht, aber nicht die Kinder. Während die Gymnasiallehrer heute 1,5 Pflichtstunden weniger als 1970 arbeiten, liegt etwa die Wochenstundenzahl der SchülerInnen in der Sekundarstufe I wie schon 1966 unverändert bei 31. Daran will der nordrhein-westfälische Kultusminister Hans Schwier zwar auch nichts ändern, aber er hat sich für das kommende Schuljahr „die Wiedergewinnung eines Freiraums für Kindlichkeit zum Ziel gemacht“.

Statt der Paukerei fordert Schwier die „Rückbesinnung auf die erzieherischen Traditionen des Lehrerberufs“. Er möchte den „Stundenplan partiell auflockern“ und „einen Teil von Schule aus dem vermeintlichen Zwang“ befreien. Redet hier der Oppositionspolitiker, dem jahrelang die Hände gebunden waren und der jetzt endlich loslegen will? Wir möchten es ja glauben, daß jetzt die Richtlinien „überarbeitet“ werden, aber hätte die seit 1966 regierende Sozialdemokratie einschließlich der GEW-Lobbyisten im Kultusministerium damit nicht etwas früher anfangen können? Tatsächlich haben private und freie Schulen, die oft jahrelang gegen den erbitterten Widerstand der Kultusbürokratien um ihre Anerkennung kämpfen mußten, zur neuen Sicht der Dinge maßlich beigetragen. Weil in zunehmender Zahl gerade die pädogogisch interessierten Eltern für ihre Kinder Alternativen zu den öffentlichen Paukanstalten suchten, entstand ein Handlungsdruck, der jetzt zu einem neuen Lernen nicht nur in Privatschulen führt. Zur Hoffnung besteht Anlaß, weil die Schulen mit den Kids täglich weniger klarkommen und deshalb dem Gerede vom „ganzheitlichen Begreifen der Welt“ tatsächlich entsprechende Taten folgen könnten.

Walter Jakobs