Das Unglück: Die Ernte ist auch noch gut

■ Berliner Umland: Fleisch-, Milch- und Butterberge auf der einen, leere Läden auf der anderen Seite / Seit 1. August dürfen DDR-Produkte ohne Kontingentierung im Westen verkauft werden / Besuch in einer LPG

Von Ute Scheub

Berlin und Umgebung. Rolladen runter, Tür verschlossen. Der „Konsum“ im Dörfchen Ahrensfelde nordöstlich von Berlin hat anscheinend dichtgemacht, und auch im zweiten Laden um die Ecke gibt's trotz der bäuerlichen Umgebung „keinen Liter Milch mehr“. Sagt jedenfalls die alte Frau, die die Hauptstraße mühsam auf Krücken entlanggeht. Mit ihren lustigen blauen Äuglein, ihren weißen Kinnhaaren und dem Kopftuch sieht sie aus wie eine Märchenhexe. Sie stellt sich mit „Tante Erna“ vor und hat die etwas wunderliche Angewohnheit, in Reimen zu reden. „Stripp strapp strull, dann war der Eimer vull“, faßt sie ihre Vergangenheit als Melkerin bündig zusammen.

Die Eimer sind immer noch vull, übervull. Die DDR ertrinkt in einem Milchsee, doch in der Umgebung Berlins ist manchmal kein halber Liter mehr zu kriegen. Die DDR sitzt auf einem Getreideberg, einem Kartoffelberg, einem Fleisch- und Butterberg, doch in den Läden fehlt es einen Monat nach der Währungsunion immer noch an Brot, an Wurst, an so vielem. Kein einzelner ist daran schuld, keine westliche Konzernspitze hat sich im Hinterzimmer zur raffiniertesten Aufkaufstrategie verschworen. Alles kommt zusammen, die Krise ist komplett. Produktionskreisläufe sind genauso wie Absatzketten unterbrochen.

Es vergeht deshalb kaum ein Tag, an dem verzweifelte Genossenschaftsbauern nicht irgendwo im Lande ihre Kirschen wegschmeißen, ihre Tomaten und Bohnen unterpflügen oder die Milch in den Gulli laufen lassen.

Welch ein Unglück:

Die Ernte ist gut...

„Das eigentliche Problem ist“, sagt Arno Lüdtke, „daß wir kein Produkt wirklich kostendeckend loswerden.“ Lüdtke ist stellvertretender Leiter einer LPG in Blumberg nahe bei Ahrensfelde. Der Vizechef meint zwar seine Genossenschaft mit ihren 350 Mitgliedern, aber seine Einschätzung trifft derzeit wahrscheinlich auf die gesamte DDR-Wirtschaft zu.

In seinem Büro in einem früheren Privatbauernhof steht eine kleine Lenin-Büste vergessen und in die tiefste Ecke der Schrankwand gedrängt, den Tisch dominiert nun ein neues Computersystem Marke Commodore. Auch Arno Lüdtke, braungebrannt in einem karierten Hemd, jammert und schimpft nicht ideologisch, er rechnet nüchtern. Im Vergleich zu anderen Genossenschaften, sagt er, gehe es der seinen dank verschiedener glücklicher Fügungen „noch relativ gut“. Die Löhne ihrer Beschäftigten wird sie wohl noch bis 1991 bezahlen können, während jetzt schon ein Drittel aller LPGs im Land bankrott sind. Auch ihr Fleisch und ihre Milch hat sie bisher noch verkaufen können - „aber zu einem Preis, der gerade mal den Futtereinsatz deckt“.

Welch ein Unglück, die Ernte in diesem Jahr ist gut. 1.800 Hektar mit Getreide, Raps, Futterpflanzen und Zuckerrüben bepflanztes Land gehören zur LPG, rechnet Lüdtke, außerdem „eine Broilermast mit einer Produktion von 5.000 Doppelzentnern im Jahr“ und 4.000 Mastschweine, 2.000 Schafe und 350 Milchkühe. Doch beim Ostberliner Milchhof ist der Literpreis für die täglichen 3.500 Liter aus der LPG Blumberg auf 60,5 Pfennig gesunken; und, wenn mehr angeliefert wird, auf 18 Pfennig. „Das ist jetzt alles knallhart hier“, sagt Lüdtke.

Den ganzen Tag Kartoffelsupp‘...

Milchseen, Schweineberge, Obsthügel - die DDR könnte ein Paradies sein. Doch unter den gegenwärtigen Bedingungen erzeugt Überfluß Mangel wie noch nie - Geldmangel halt. Die rosafarbenen Mastschweinchen der LPG, in Zehnerboxen mit Gitterrost für die durchfallende Scheiße gehalten, fressen den Genossenschaftsbauern noch die Haare vom Kopf. Mit hysterischer Freude begrunzen sie die beiden Werktätigen, die ihnen zweimal täglich eine gräuliche Kartoffelsuppe in die Tröge gießen. „Ein Doppelzentner Getreide kostet 30 bis 35 DM, fünf Doppelzentner Getreide erbringen einen Doppelzentner Schwein“, rechnet Arno Lüdtke.

Kurzarbeit - und die

Säue werden fetter...

„Das sind allein 175 DM Futterkosten für 100 Kilo Schwein“, zu denen natürlich noch jede Menge weitere Kosten für Stallunterbringung, Tiermedizin und anderes hinzuzurechnen seien, addiert er die marktwirtschaftliche Schweinerei. Doch die Hauptabnahmestelle der LPG, das jetzt zu einer GmbH umgewandelte Fleischkombinat am Prenzlauer Berg, zahlt ihnen nur noch 2,30 DM pro Kilogramm.

Was nicht weiter verwundern kann: Auch die Fleisch GmbH geriet in große wirtschaftliche Schwierigkeiten, weil die von westlichen Konkurrenzprodukten betörten DDR -Handelsketten und DDR-Verbraucher kaum mehr Produkte abnehmen. Früher wurden täglich in zwei Schichten 2.300 bis 2.500 Schweine geschlachtet, vor kurzem waren es nur noch 400. Die Mitarbeiter schoben Kurzarbeit, derweil die Schweine in den LPG-Ställen immer fetter und unverkäuflicher wurden. Wie es jetzt aussieht, ist der taz allerdings nicht bekannt - der Geschäftsführer mochte sie wegen derzeitig noch schwebenden Verhandlungen mit diversen Westketten nicht empfangen.

Die Genossenschaftsbauern sind also überall gezwungen, zur Selbsthilfe überzugehen. Manche verkaufen ihr Fleisch vor Ort, andere treiben neue Absatzmöglichkeiten im Westen auf. Denn seit 1. August ist die EG-Agrarunion mit der DDR in Kraft getreten - DDR-Produkte dürfen nunmehr ohne jede Mengenbeschränkung nach West-Berlin, in die BRD und die anderen elf EG-Staaten geliefert werden. Die LPG Blumberg liefert jetzt ebenfalls Fleisch nach Bremen.

Auch durch das Vorhaben, DDR-Überschußprodukte in die Sowjetunion zu liefern, hat sich die Lage in den Genossenschaften und Verarbeitungsbetrieben etwas entspannt

-allerdings nur vorübergehend. Eine Million Schweine, eine Million Tonnen Getreide und 8.000 Tonnen Butter sollen nach Informationen des Blumberger LPG-Vizechefs in den Osten geliefert werden. Er weiß es deshalb ziemlich genau, weil zumindest der Roggen- und der Rapsanbau seiner Genossenschaft vom Staat wohl zu diesem Zwecke „per Intervention“ aufgekauft wird. Das sichert wieder ein wenig Einkommen. „Per Intervention“ - das bezieht sich auf die komplizierten Binnen- und Außenschutzsysteme der EG -Agrarunion. Mit staatlichen Aufkäufen werden damit die EG -Preise von Getreide und anderen Agrarprodukten gegenüber den Weltmarktpreisen künstlich hochgehalten.

...und Tante Erna

dichtet weiter

Aber auch das alles, weiß Lüdtke, löst die Probleme nicht. Deswegen versucht seine Genossenschaft nun einen Teil ihrer Flächen an westliche Speditionsfirmen zu vermieten sowie alle möglichen Produktionsbereiche samt Mitarbeitern als kleine selbständige GmbHs auszulagern - die Reparatur von Traktoren oder den Verkauf von Landmaschinen beispielsweise. „Wir müssen runter mit unserem Arbeitskräftebestand“, sagt der Vizechef, „wir müssen den halbieren oder sogar vierteln, wenn wir irgendwann auf ein westliches Verdienstniveau kommen wollen.“ Entsprechend gedämpft ist die Stimmung im Betrieb.

Scheinbar die einzige, die sich in Berlins ländlicher Umgebung ihre gute Laune bewahrt hat, ist „Tante Erna“ aus Ahrensfelde. Sie habe schon Schlimmeres erlebt, sagt sie. Und: „Gibt's heute keine Milch, gibt's morgen wieder welche, es wird vorübergehen auch dieser Kelche.“