Bocksprung zum nächsten Weltkrieg

■ „Nationalität: deutsch“, Sonntag, DFF 2, 22.15 Uhr

Am Anfang war die Schulchronik, in die eine „Dorfinstitution“, der Lehrer Linneke, Ereignisse, Veränderungen und Daten festhielt, die ihm denkwürdig erschienen. Das Resultalt ist eine Fundgrube: Seitenweise entblättert sich vor uns eine deutsche Seele in gestochen scharfer Sütterlinschrift als Abbild einer Nationaltugend: Gründlichkeit.

Als Defa-Regisseur Karl Gass 1978 ganz en passant auf diese dicke Kladde stieß, roch er gleich den Braten, mußte jedoch zehn lange Jahre auf die Startgenehmigung zum Drehbeginn warten. Erst dann konnte er die politischen Irrungen und Wirrungen Deutschlands aus der unzensierten Sicht eines bürgerlichen Jedermann verfilmen. Die Aufzeichnungen wurden in der brisanten Zeit von 1919 bis in die frühen fünfziger im altmärkischen Rinddorf angelegt. Und das mit einer Akribie, die uns erschaudern läßt, finden wir doch hier genau den ungebrochenen Willen zur Pflichterfüllung, der so verheerende Folgen haben sollte. Nur ganz verschämt und weil es die Etikette halt erlaubt, gibt Linneke zwei persönliche „Daten“ ein: seine Vermählung und pünktlich ein Jahr drauf die Geburt der ersten Tochter. Ansonsten nichts Privates und der allgemeine Nutzen, die Gedanken zum „Wohle des Volkes“ stehen immer schwarz auf weiß im Vordergrund. So gehen die Jahre ins Land - je näher wir ans „Stichjahr“ 1933 geraten, desto eindringlicher werden didaktische Zooms auf die Jahreszahlen - und eines wird immer klarer: Neben der Pflege des Volkslieds als „treue Bewahrung der deutschen Art“, neben Feldzügen gegen die Kartoffelkäfer stand vor allem ein Gespenst im Klassenzimmer: das Erziehungsprinzip von Treu und Redlichkeit.

Selbst „Frohsinn und Lust“ des „Turnerischen Wanderns“ und der „Leibesertüchtigung“ wurden im Gleichschritt durchgezogen, und die Archivbilder machen klar, daß hier beim Bockspringen der nächste Weltkrieg vorbereitet wurde. Trotz seiner Strenge war der Lehrer doch auch zartbesaitet und spielt noch als SA-Mann die Geige. Auch liebte er die „schöne Photographie“ und ließ den Wechselrahmen in der Klasse mit Ansichten aus deutschen Landen schmücken. Später reihten sich dann, je nach Bedarf, Hitler, Puschkin, Stalin und die Köpfe der DDR in den Reigen. Natürlich bebildert dieser Wechsel auch das Parteienkarussell Herrn Linnekes. Von der NSDAP rutschte er über die SPD zur SED und blieb, obwohl es jeder anders wußte, „unbedenklich“ im Amt.

Der Dokumentarfilm über diesen Eiertanz des deutschen Jedermann schließt brav mit einem Wort zum Sonntag: Weihnachten 1989 mahnt der Rinddorfer Pfarrer die Schüler Linnekes zum mäßigen Umgang mit den Schuldigen.

Gaby Hartel