Die Wichtigkeit der Bilder

 ■ Zwischen Medium und Welt - Fotografie in der Schweiz

Von Axel Schmidt

Iren Stahl fotografiert seit sechzehn Jahren das Leben einer Prager Zigeunerfamilie im Libuna Sivakova. Hans Danusers Aufnahmen dringen in Bereiche vor, die für die Öffentlichkeit uneinsehbar und für das Auge letztlich unsichtbar sind. Er hat eine zehnjährige Fotoarbeit in den Bereichen Medizin, Pharmaforschung, Laserforschung für die Kernfusion, Genforschung u.a. abgeschlossen. Gerade hier wird an Dingen laboriert, die dann nicht zu übersehende Folgen haben.

Vladimir Spacek dokumentiert eine leergeräumte psychiatrische Anstalt vor dem Abriß. Roland Schneider zeigt während seines eigenen Anstaltsaufenthaltes entstandene Bilder.

Die Ausstellung Wichtige Bilder. Fotografie in der Schweiz im Museum für Gestaltung Zürich macht deutlich, daß die gegenwärtigen AutorInnen sich verstärkt mit der Wirklichkeit auseinandersetzen.

Es ist nicht mehr die mit dem Blick der klassischen Fotografie und dem naiven Glauben an die Objektivität der Reoportagefotografie gesehene Wirklichkeit. Die Arbeiten der insgesamt siebzehn ausstellenden KünstlerInnen beweisen größtenteils ein Engagement in der Welt, das die Selbstbesinnung auf die Fotografie als Medium durchlaufen hat. Diese in den siebziger Jahren bis hin zum Autismus betriebene Reflexion auf die Bedingungen des Mediums waren notwendig gewesen, um den bis in die sechziger Jahre hineinreichenden konventionellen Glauben an die Fotografie als objektive Abbildnerin der Wirklichkeit in Frage zustellen. In den achtziger Jahren hat sich diese Entwicklungsbewegung zwischen den beiden Polen Welt und Medium ausgependelt. Der Anspruch, der an zeitgenössische Fotografie gestellt ist, verlangt ein Engagement für die Welt, das sich der Bildhaftigkeit des Fabrizierten bewußt ist. Heute bietet sich im weiten Rahmen der Möglichkeiten eine Vielfalt von unterschiedlichen Haltungen und Standpunkten dar. Mit dem Titel Wichtige Bilder tritt nun aber keine unausgewiesene Auswahl aus der Bilderflut auf. Der Inflation der Bilder begegnet die Ausstellung nicht mit einer Ohnmachtsgeste, sondern mit dem Bemühen einer kritischen Bestandsaufnahme. Die sorgfältige Ausrichtung der Ausstellung zeigt sich an dem dazu erschienenen Buch gleichen Titels. Es enthält, neben Texten zu den einzelnen Fotografen, einen neunzigseitigen iullustrierten Essay von Urs Stahel, dem Gastkurator der Ausstellung. Der Text liefert einen kritischen Überblick der letzten Jahrzehnte schweizer Fotografie. Brillant verfaßt, ist er eine kleine Geschichte der Fotografie. Sie liest sich vor dem Hintergrund der internationalen Entwicklung des Mediums, der Medientheorie, der Kunstentwicklung sowie gesellschaftlicher Fragen. „Während die 68er über die Jahre feststellen mußten, daß ihre Vorstellungen wie trockene Schuppen abbröckelten und sie es trotz einschlägiger Therapieerfahrungen nicht schafften, ihren steigenden Frust in Lust zu verwandeln, könnte die 80er-Bewegung eigentlich zufrieden sein. Die Dekonstruktion der großen Programme, das Ändern der Spielregeln während des Spiels, die Provokation nicht als bloßes Mittel, sondern als lebenswichtiges Ziel - alles Grundmerkmale der damaligen Bewegung - haben sich zu tragenden Pfeilern des Zeitgeistes entwickelt; selbstverständlich nicht in der politischen Realität, sondern auf ästhetischer Ebene - in Film, Kunst, Fotografie und Lebensstil.“ Stahel sieht 1980 als eine Zäsur und den Beginn „des mit Abstand innovativsten und fantasiereichsten Jahrzehnts der Fotogeschichte“. Der Autor durchmißt in seinem Rückblick die ganze Spannbreite von diskursiver Erörterung zu anschaulichen Bildbeschreibungen. Die Transparenz der Argumentation gibt nicht nur dem nichtschweizerischen Leser einen detaillierten Einblick in die Fotografie der Schweiz. Sie bietet darüberhinaus einen Einstieg in die Problematik der modernen Fotografie.

Wie die Einleitung des Kurators Martin Heller bringt Stahel immer wieder polemische Spitzen gegen die Enge und Engstirnigkeit der schweizer Zustände. Ihr Ansatz versteht sich provokatorisch und initiatorisch: sie sprechen für eine schweizer Szene, die sich durch Auseinandersetzung, Austausch und Öffentlichkeit auszeichnen soll. In dieser Hinsicht wurden drei NachwuchsfotografInnen mit reportageähnlichen Arbeiten für die Ausstellung beauftragt. Hannes Rickli hat es dabei bis in den farbigen Makrokosmos geschmolzenen Zuckers geschafft, Francisco Carrascosa in einem Züricher Nachtklub fotografiert, Nadia Athanasiou auf Malta.

Bei allem Intersse für die Welt, werden Ausstellungsmacher und KünstlerInnen von dem Wissen geleitet, daß es sich letztlich um „Bilder“ handelt. Diese Bilder sind „wichtig“, weil es ohne sie keine Wirklichkeit gibt. Aus diesem Grund heißen Ausstellung und Buch Wichtige Bilder und nicht „Wichtige Fotografien“. Es geht der Ausstellung nicht um die Fotografie als abgegrenzten Bereich, als reine Disziplin der Fotografen. Und so stammt ein Beitrag vom Künstlerduo Peter Fischli/David Weiss; Bernhard Voita kommt von der Skulptur her, ebenso Hannah Villinger, die mit zusammengestellten fragmentarischen Nahaufnahmen ihres Körpers arbeitet.

Außerdem zu sehen sind: Balthasar Burkhard, Felix Stephan Huber, Christian Vogt, Olivier Richon, Nicolas Faure und, zum Schluß, die Vaterfigur vieler junger SchweizerInnen, die im Alleingang die wohlbehütete Enge der Heimat verlassen hat, um fortan Bilder aus einer harten aber nicht ganz hoffnungslosen Welt zu liefern: Robert Frank.

„Wichtige Bilder. Fotografie in der Schweiz“ ist bis zum 26.August im Museum für Gestaltung Zürich zu sehen. Katalogbuch, hg. von Urs Stahel und Martin Heller, 23*29 cm, 248 Seiten, 96 ganzs. Farb- und Duotone-Abb. sowie 60 schwarzweiße, Preis in der Ausstellung (brosch.) 48 SFr, im Buchhandel (geb.) 79 DM, Verlag Der Alltag, Zürich und Frankfurt am Main.