Wie würde Ludwig Erhard 1990 entscheiden?

■ Selbst die Vertreter der sozialen Marktwirtschaft müßten den Kollaps der DDR-Wirtschaft zu vermeiden versuchen

DOKUMENTATION

Von Erika Maier

Der gegenwärtige Sprung der DDR in die Marktwirtschaft und die Öffnung zum Weltmarkt läuft mit großer Präzision nach dem Konzept des Vaters der „sozialen Marktwirtschaft“, Ludwig Erhard, ab. Als energischer Gegner von Übergangszeiten und Befürworter „harter Lösungen“ zog Erhard mit der Währungsreform 1948 ganz bewußt die dirigierende Hand des Staates von der damals noch stark zerstörten, disproportionierten, leistungsschwachen Wirtschaft der drei Westzonen. Er sah natürlich die Gefahr von Arbeitslosigkeit und Preisauftrieb, vertraute aber voll auf die Kraft des sozial abzusichernden Marktes und der Marshallplanhilfe.

Fünf Jahre später entwarf Erhard nach diesem letztlich erfolgreich verlaufenen Modell ein analoges Konzept für die „Wiedereingliederung des deutschen Ostens mit den Mitteln und nach den Grundsätzen der Marktwirtschaft“, das im Bulletin 'Wirtschaftliche Probleme der Wiedervereinigung‘ vom 12.9.1953 dargelegt ist. Als erste Maßnahme plante er unter dem Eindruck der Ereignisse um den 17.Juni 1953 eine Währungsreform, die die Angleichung des Preis- und Lohnniveaus an die in der Bundesrepublik herrschenden Verhältnisse einschließen sollte. Die Produktivitätserhöhung und Leistungsangleichung an das Niveau der BRD sollte rasch und energisch und zeitlich so kurz wie möglich erfolgen. Rigoros wandte er sich gegen jene, die „die Sowjetzone gegenüber der Konkurrenz von außen zunächst abgeschirmt wissen wollen, um der Ostwirtschaft nach einem vorgefaßten Plan in einer bestimmten Stufenfolge Zeit und Ruhe zu jener Leistungsangleichung zu geben“.

Daß Ludwig Erhard diesen kurzen schmerzhaften Weg in die Marktwirtschaft auch heute noch für die DDR-Wirtschaft empfehlen würde, ist unwahrscheinlich.

Selbst einige seiner Schüler glauben inzwischen, daß Erhard heute aufgrund der veränderten Bedingungen und „seiner sozialen Verantwortung“ andere Empfehlungen gegeben hätte. Wahrscheinlich wäre unter Erhard zunächst die Konvertierbarkeit der DDR-Mark, die den Absatz der DDR -Produkte erleichtert, unterstützt worden, drohende Betriebsschließungen und Arbeitslosigkeit begrenzt und die Umstellung auf D-Mark bis zum Tag der staatlichen Wiedervereinigung zurückgestellt worden. Das hätte die Kosten für Betriebssubventionen, Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe, die auch auf die BRD-Bürger zukommen, erheblich gesenkt.

Vielleicht ist schon der Anschluß des Saarlandes an die BRD Ausdruck veränderter Einsichten Erhards gewesen.

Das Saarland war am 1.Januar 1957 nach Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik beigetreten. Die damalige Bundesregierung, in der Ludwig Erhard Wirtschaftsminister war, legte eine dreijährige Übergangszeit fest und lehnte den Antrag des Saarlandes auf Verkürzung dieser Zeit im November 1957 ab. Statt dessen stellte sie Hilfe durch Investitionsbegünstigung und Absatzförderung saarländischer Produkte in der BRD in Aussicht. Abgesehen davon, daß im Unterschied zur Wirtschaftslage in der DDR heute damals kein Zeitdruck bestand, ist keineswegs auszuschließen, daß diese Entscheidung auch durch die Erfahrungen Erhards nach der Wirtschafts- und Währungsreform beeinflußt war.

Durch die Erfolge der von Erhard geprägten „sozialen Marktwirtschaft“ in der BRD wird vielfach überdeckt, daß die wirtschaftliche Lage nach der Währungsreform außerordentlich kompliziert und die Politik Ludwig Erhards heftigen Angriffen ausgesetzt war.

Die komplizierte Versorgungslage und sprunghaft angestiegene Preise - im Juli 1948 allein um vier Prozent, im August um zwei, im September um drei und im Oktober beinahe um fünf Prozent - führten am 12.November zu einem 24stündigen Generalstreik gegen die Erhardsche Wirtschaftspolitik, an dem über neun Millionen Erwerbstätige teilnahmen. Die Arbeitslosigkeit erreichte 1950 über zwölf Prozent, mit Hilfe des Internationalen Währungsfonds mußte die Zahlungsbilanzkrise gelöst werden.

Erst im Frühjahr 1951, immerhin zweieinhalb Jahre nach der rigorosen Wirtschafts- und Währungsreform, begann der deutliche Aufschwung der BRD-Wirtschaft mit einem Wirtschaftswachstum von jährlich beinahe acht Prozent, dem Anstieg der Beschäftigten von 14 auf 18,5 Millionen, jährlichem Realeinkommenszuwachs von 5,3 Prozent und der Erhöhung der Sozialleistungen um das 2,5fache in der Zeit bis 1958.

Trotz dieser wirtschaftlichen Stärke entschloß sich Erhard 1957 nicht, die rund eine Million Einwohner des Saarlandes ohne längere Übergangszeit in diesen Wirtschaftsraum aufzunehmen. Es dürften das nicht nur Erinnerungen an schwere Anfangsjahre, sondern auch Einsicht in veränderte Bedingungen gewesen sein.

Wesentlicher noch haben sich in den letzten Jahrzehnten die Verhältnisse auf nationaler und internationaler Ebene verändert. Da sind vor allem die gewachsene Explosivkraft sozialer Spannungen zu nennen, die ökologischen Probleme wirtschaftlicher Entwicklung und die viel stärkeren weltwirtschaftlichen Interdependenzen, im europäischen Raum vor allem in Vorbereitung auf den EG-Binnenmarkt.

Prinzipiell anders als zur Zeit Erhards ist heute die Marktsituation für die DDR-Betriebe. In den vierziger Jahren bestand ein riesiges Defizit an Waren, so daß jedes einigermaßen brauchbare Produkt vom Markt angenommen wurde. Dieser Marktsog brachte die Wirtschaft weitgehend selbsttätig in Gang.

Die DDR-Wirtschaft hingegen verliert gegenwärtig wesentliche Teile ihres Marktes, einerseits, weil ihre Produkte qualitäts- und kostenmäßig zu erheblichen Teilen nicht wettbewerbsfähig sind, zum anderen, weil Unternehmen aus der BRD und anderen westlichen Ländern die für sie attraktiven Absatzmärkte besetzen.

Wenn der Marktsog fehlt - und das ist heute kein spezielles DDR-Problem -, kann die Herstellung der für die Marktwirtschaft unerläßlichen Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen nicht allein von den Marktkräften erwartet werden. Es wäre geradezu töricht, von den ständig schrumpfenden Schuhproduzenten der BRD Rücksichtnahme oder Hilfe für die Schuhindustrie der DDR zu erwarten. Ihr natürlicher „Eigennutz“, wie Adam Smith formulierte, zwingt sie zum Konkurrenzverhalten. Es ist keineswegs unmoralisch, wenn sich die Firma Puma vornimmt, „die DDR flächendeckend mit Sportschuhen... zu überschwemmen“ und damit de facto die Sportschuhproduzenten der DDR zu ruinieren.

Nur der Staat und sonst niemand ist in der Lage, den Betrieben der DDR die nötige Karenzzeit einzuräumen, um unter Beweis zu stellen, ob sie im Wettbewerb bestehen können und vielleicht sogar besser und billiger produzieren als ihre westlichen Konkurrenten. Wird das die Bundesregierung tun? Da die Spielräume der DDR-Regierung gering sind, hängt letztlich die Entscheidung über die Überlebenschancen der DDR-Wirtschaft weitgehend von den Nachfahren Ludwig Erhards ab. Ihr Problem besteht darin, daß sie einerseits des Freibeutertums bezichtigt werden könnten, andererseits aber bei Hilfeleistung für DDR-Betriebe gegen die Interessen ihrer eigenen Unternehmen handeln würden. Damit geraten die Nachfahren mit dem Erhardschen Credo in Konflikt.

Die Autorin ist Ökonomin und neugewählte Direktorin des Instituts für Allgemeine Wirtschaftstheorie der Hochschule für Ökonomie in Ost-Berlin