Wahlrechtskonsens ist verfassungswidrig

■ Die Regelung wurde von den Parteien willkürlich getroffen

ANALYSE

Nun hat es doch noch geklappt: Der Wahlrechtskonsens ist gefunden und - verfassungswidrig! Die vorgesehene Listenverbindung verschiedener Parteien ist nämlich nur erlaubt, wenn diese „in keinem Land - ausgenommen Berlin nebeneinander Listenwahlvorschläge einreichen“. Mehrparteiige Listenverbindungen sind in der Bundesrepublik seit 1953 verboten. Ob mehrparteiige Listenverbindungen überhaupt mit der Verfassung vereinbar sind, ist umstritten, da die Wählerstimmen durch Taktik großer Parteien eine Doppelfunktion bekommen können. Gerichtsentscheidungen hierüber gibt es nicht. Aber selbst wenn sie grundsätzlich zulässig wären, ist es die im Wahlvertrag getroffene Regelung jedenfalls nicht, das liegt an der besonderen Beschränkung: Nur solche Parteien, die ihre Kandidatur auf unterschiedliche Länder begrenzen, können ihre Listen verbinden. Dies verstößt gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien, wie er sich aus Art.3 und Art.38 des Grundgesetzes (GG) ergibt: In ständiger Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) seit annähernd 40 Jahren immer wieder betont, daß der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit streng formalen Charakter hat, das heißt nur aus „besonderen zwingenden Gründen“ darf der Gesetzgeber eingreifen. Bisher ist ein solcher Eingriff lediglich im Hinblick auf die Fünfprozenthürde vom Verfassungsgericht akzeptiert worden und dies auch nur unter starker Kritik der Literatur. Das Argument (Parteienzersplitterung) stammt aus einem Urteil von 1952 und das Gericht hat es mit zunehmender zeitlicher Distanz vom Nachkriegsdeutschland lediglich formelhaft wiederholt und es ist fraglich, ob es daran in der Sache heute festhalten würde. Das BVerfG hat gleichzeitig immer betont, daß „dem Ermessen des Gesetzgebers besonders enge Grenzen gezogen“ sind, wenn die „Chancengleichheit der politischen Parteien“ durch seine Maßnahmen „verändert werden kann“. Außer zwingend erforderlichen Eingriffen (Parteienzersplitterung) und rein technischen Regelungen sind dem Gesetzgeber Maßnahmen schlechterdings versagt. Dies liegt an der fundamentalen Bedeutung des Wahlsystems für die parlamentarische Demokratie und insbesondere daran, daß die jeweils regierenden Parteimehrheiten geneigt sind, das Wahlgesetz zu ihren Gunsten zu verändern. Hinsichtlich der Verfassungsgemäßheit der vorgesehenen Regelung ist festzustellen, daß die generelle Möglichkeit der Listenverbindungen ja gerade den kleinen Parteien die Chance gibt, über die Fünfprozenthürde zu kommen und insoweit ein zulässiger Eingriff in das Wahlgefüge ist. Dies wird aus verfassungsrechtlicher Sicht aber bereits dann zweifelhaft, wenn vor Inkraftsetzen der Wahlregelungen feststeht, daß Parteien, die Probleme mit der Fünfprozenthürde haben, keine großen Parteien finden, die ihnen im Wege der Listenverbindung ins Parlament verhelfen. Verfassungswidrig ist aber in jedem Fall eine solche Regelung dann, wenn sie weitere Differenzierungen vornimmt, wie dies im Wahlvertrag vorgesehen ist: Verbot der Listenverbindungen für Parteien, die im jeweiligen Land gleichzeitig Listen einreichen. Da feststeht, daß dies eine der kleinen Parteien mit Sicherheit nicht einschränkt (nämlich die DSU), hingegen andere mit Sicherheit davon betroffen sind (Bündnis90, Grüne/Ost und PDS), greift der Gesetzgeber hier in die Chancengleichheit der miteinander konkurrierenden Parteien in einer Weise ein, die das Wahlergebnis wesentlich beeinflussen kann. Zu allem Überfluß haben auch noch führende Vertreter der Bonner Koalitionsparteien erklärt, daß die vorgesehene Regelung vor allem der DSU in den Bundestag verhilft. Das grenzt schon an gesetzgeberische gezielte Wahlhilfe, die den Verfassungsverstoß evident macht.

Sollte die Regelung bei den Wahlen angewendet werden, sind die Grünen der DDR und das Bündnis90 gezwungen, entweder eine Partei zu bilden (wiewohl sie bisher als unterschiedliche politische Vereinigungen etabliert waren), um dann mit Hilfe der West-Grünen im Wege der Listenverbindung in den Bundestag zu kommen. Sollten die West-Grünen aus irgendeinem Grunde es vorziehen, mit den Ost -Grünen zu fusionieren, steht fest, daß das Bündnis90 infolge der einschränkenden Regelung (keine Listenverbindung konkurrierender Parteien) nicht in den Bundestag kommt. Daß die vorgesehene Regelung nicht aus sachlichen Gründen getroffen wurde, sondern willkürlich, zeigt sich auch daran, daß für Berlin eine Ausnahme festgesetzt ist: Hier dürfen konkurrierende Parteien eine Listenverbindung eingehen.

Die entscheidende Frage ist, ob das Verfassungsgericht überhaupt angerufen werden kann und von wem. Da das Bundeswahlgesetz geändert werden muß, ist jedenfalls für den Bereich der BRD die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts begründet. Für die DDR ist die Zuständigkeit dann begründet, sobald sie beigetreten ist. Nach aller Voraussicht wird dies vor dem Wahltag sein. Spätestens an diesem Tage wäre dann die Zuständigkeit des BVerfG für das Gebiet der heutigen DDR begründet. Daß das GG für die DDR bereits vor Abhalten der Bundestagswahlen in Kraft gesetzt werden muß, ergibt sich übrigens aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz, wonach ein Parlament nur nach der Verfassung des Staats gewählt werden kann, dessen Parlament es ist. Wenn also die DDR-Wähler wählen, bevor das GG in ihrem Land gilt, würde es an der Unmittelbarkeit der Wahl (Art.38 GG) fehlen. Ihre Kandidaten wären nämlich rechtlich gesehen keine Bundestagskandidaten.

Vor den Bundestagswahlen sind klagebefugt nur die obersten Bundesorgane oder Fraktionen des Bundestages oder politische Parteien. Diese - so das BVerFG in ständiger Rechtsprechung

-dann, wenn sie durch die rechtliche Gestaltung des Wahlverfahrens in ihrem verfassungsrechtlichen Status gefährdet sind. „Gefährdung“ ist jede drohende Rechtsbeeinträchtigung. Erweist sich im Verfahren dann eine Verletzung der Verfassung, so stellt das Verfassungsgericht die Grundgesetzwidrigkeit der jeweiligen Regelung fest.

Die Klagebefugnis der Bundes-Grünen ist nicht sicher. Sie sind von dieser Regelung ja nur insoweit betroffen, als ihr Parteiaufbau in der DDR davon beeinflußt werden kann. Jedenfalls sind aber klagebefugt das Bündnis90, die Grüne Partei Ost und die PDS, spätestens im Zeitpunkt des Beitritts (beziehungsweise der Inkraftsetzung des GG für die DDR). Im übrigen dürfte es für das BVerfG nicht schwierig sein, einen Weg für die Zulassung der jetzigen DDR-Parteien zu finden, insbesondere deshalb, weil aus verfassungsrechlicher Sicht feststeht, daß sie zu irgendeinem Zeitpunkt - gegebenenfalls bei Öffnung der Wahllokale - klagebefugt sein werden. In diesem Zeitpunkt müßte dann eine von ihnen eingereichte einstweilige Anordnung auf Stopp der Wahlen vom Verfassungsgericht entschieden werden. Angesichts der dann drohenden staatspolitischen Verwerfungen dürfte das BVerfG eine frühzeitige Prüfung vorziehen und eine Klage der DDR -Parteien schon vor dem Beitritt zulassen.

Jedenfalls ist bereits nach Verabschiedung der Änderungen zum Bundeswahlgesetz jede Landesregierung im Wege der abstrakten Normenkontrollklage klagebefugt. Sie muß auch nicht irgendeine Rechtsverletzung geltend machen, sondern ihr Antrag ist per se zulässig. Da davon auszugehen ist, daß nach den Wahlen ganz sicher eine Wahlanfechtung (Art.41 GG) vor dem Bundesverfassungsgericht stattfinden wird, sollte sich unter den Ländern eine Klägerin finden, die die frühzeitige Klärung der Sachlage herbeiführt und widerlegt, daß Geschichte sich wiederholt: „Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben“ (Ulbricht vor den ersten Wahlen in der damaligen SBZ).

Karlheinz Merkel

Der Autor ist Rechtsanwalt in West-Berlin und berät die Gruppen des Bündnis90 in Wahlrechtsfragen.