Vergossene Milch oder die gescheiterte Vereinigung

■ Die gesamtdeutsche Absurdität angesichts neuer Beschleunigungsversuche

EDITORIAL

ZEITDRUCK ALS MACHTKAMPF. Am 14.Oktober gesamtdeutsche Wahlen! Vier Wochen nach der Währungsunion, vier Wochen, nachdem man sich mit der Tempomacherei abgefunden hat und alle politischen Alternativen zu depressiven Träumereien zerstoben sind, vier Wochen danach gibt es einen neuen Ruck, wird noch einmal Tempo gemacht. Das ganze politische Kalkül, die deutsche Vereinigung als Machterhaltung zu betreiben, zeigt sich in seiner nackten Häßlichkeit. Im Unternehmen Vereinigung zeichnet sich der politische, moralische, wirtschaftliche, administrative Bankrott ab. Das Schlimmste aber scheint für die politisch Verantwortlichen zu sein, daß Lafontaine recht haben könnte. Flucht in die Einheit also. Jetzt wird die teutonische Walze aus dem Geräteschuppen geholt: Einbettung der Einigung in den KSZE-Prozeß, in den Prozeß der europäischen Einigung, in den Abrüstungsprozeß alles egal. Jetzt wird kurzer Prozeß gemacht, mit der DDR, mit der Misere, mit den Leuten hüben und drüben. Wähl oder stirb, Deutscher! Gemessen an dieser politischen Blitzkriegs -Lust mag eine Tatsache nicht ins Gewicht fallen. Aber wenn man bedenkt, daß in diesen Tagen nicht nur Geschichte gemacht, sondern auch geschrieben wird, dann hat sie Gewicht: die Menschen werden von einer Grundsee politischer Erfahrungen überfallen, die sie alle nur als Krise erleben. Wenn der 14. Oktober tatsächlich der Wahltermin sein sollte, dann wären die vierzehn Wochen Währungsunion, der eigentliche Prozeß der Vereinigung, nur Misere, die überwunden worden ist. Nehmen wir uns die Zeit im neuen Zeitdruck und werfen wir wieder einmal einen Blick auf die Realität.

VERGOSSENE MILCH. Eine Woche nach der Währungsunion wurde die Milch vergossen. LPG-Bauern schütteten sie vor die Rathaustür der „Heldenstadt“ Leipzig. In Werder werden Süßkirschen untergepflügt und der verottete Blumenkohl landete vor der Volkskammer. Bauernproteste eben, mit westliche Augen gesehen, gewissermaßen EG-Standard. Aber nach dem sozialistischen Bildungsroman und vierzig Jahren GeWi-Unterricht bedeutet das noch etwas anderes: vergossene Milch und Gemüse auf der Halde waren Sinnbild für den untergehenden Kapitalismus, die Zerstörung des Reichtums durchs Profitinteresse. Nicht nur, daß die Krise da ist, es werden auch prompt mit der Währungsunion die kapitalistischen Krisen inszeniert. Alle Nachrichten zeigen, daß die DDR-Wirtschaft sich nicht auf den kommenden Markt vorbereitet hat. Vielmehr praktizieren Kombinatsdirektoren, Handelsgesellschaften, Bürgermeister schulbuchmäßig die kapitalistische Ellbogengesellschaft. Die Monopolstruktur der Planwirtschaft will den Extraprofit. Zwei Thesen ergeben sich aus diesen Beobachtungen; erstens: Die Herbstrevolution 1989 zerschlug den sozialistischen Staat; die schnelle Vereinigung im Sommer 1990 konservierte die sozialistische Gesellschaft. Und zweitens: Es geht gar nicht um die Form der Vereinigung. Die Linke hat sich viel zu lange in der Frage Anschluß oder gleichberechtigte Konföderation ideologisch verbarrikadiert. Aber es ging um eine Gesellschaftsumwälzung, um eine administrative Revolution, um eine Revolution nicht gegen und auch nicht mit, sondern um eine Revolution fürs DDR-Volk. Niemand hat sich richtig mit den Revolutionsideen oder -ideenlosigkeiten beschäftigt.

DAS GESAMTDEUTSCHE REVOLUTIONSMODELL. Betrachten wir die Bonner Regierung als Revolutionsrat für die Umwälzung der DDR und stellen wir uns vor: Das Ancien Regime wirft das Handtuch, nachdem es die Volksmassen nicht mehr halten kann. Der Bonner Wohlfahrtsausschuss beschließt folgendes Programm: Umstülpung des Rechtssystems, des Verwaltungssystems, der Wirtschaftsordnung, des Finanzwesens, des Kultursystems, des Bildungssystems, des Militärwesens. Die totale Revolution also. Damit - die Gesellschaftsveränderung in kurzer Frist durchzuführen beauftragt sie eben jene Verwaltung des Ancien Regimes. Ein Finanzrahmen wird angegeben. Aber der Verwaltung des Ancien Regime wird es überlassen, wann, mit welcher Genauigkeit die Zahlen, Bilanzen, Bedarfsrechnungen erstellt werden, von denen aus beurteilt werden könnte, ob die Kreditlinien überhaupt Sinn machen. Was muß passieren und was passierte? Die Administation des Ancien Regime sichert seine Existenz. Man praktiziert sein traditionelles Verwaltungshandeln von der Entscheidungsgeschwindigkeit bis hin zur Realitätsbeziehung und entdeckt, daß der Fianzrahmen nicht reicht. Dieses Revolutionsmodell bedeutet: Rekonstruktion des Ancien Regime abzüglich der regierenden Dynastie oder Realsozialismus ohne SED. Inzwischen bricht die neue Gesellschaftsordnung, Marktwirtschaft genannt, unten, im Alltag der Leute, durch. Die Geschichte der europäischen Revolutionen wanderte von der politischen Revolution zur sozialen Revolution. Die administrative Revolution ist weder politisch noch sozial, sie ist gescheitert.

JOINT-VENTURE BRDDR. Betrachten wir also besser die Vereinigung als Joint-venture BRDDR: Das Unternehmen ist nicht mehr liquide. Die Wirtschaft - in dieser Allgemeinheit läßt sich reden - kann die Löhne nicht zahlen, weil die Produkte nicht bezahlt werden können; deswegen gerät auch die Lieferung von Material fürs Produzieren in Verzug. Das Unternehmen rast in eine „Liquiditätsfalle“. Das Unternehmen ist total unterfinanziert: die Arbeitslosenzahlen werden mindestens doppelt so hoch wie angesetzt, also über 800.000 sein, der Arbeitslosenversicherung fehlen fünf Milliarden Mark. So geht es weiter: Das monatliche Defizit der Krankenversicherung eine Milliarde Mark; das Defizit der Rentenversicherung um 2,5 Milliarden Mark; die Treuhandanstalt meldet 100 Milliarden Mark Bedarf an. Das Joint-Venture Deutsche Einheit ist pleite. Jetzt müßte verkauft werden, um die Forderungen zu befriedigen. Aber aus gewissen historischen Gründen geht es nicht, den Brocken an Daimler-Benz und die Altstädte von Erfurt, Meißen, Schwerin und Dresden an japanische Versicherungen zu verkaufen. Außerdem hat ja der Hauptkapitaleigner eine Gelddruckmaschine. Insofern hinkt natürlich der Vergleich. Aber die Pleite zeigt, daß Bonner Politiker und Ministerialbürokraten weder Kompetenz noch historische Legitimation haben, eine Revolution von oben zu veranstalten oder ein nationales Joint-venture auf die Beine zu stellen. Nichts stimmt, nicht die Zahlen, nicht die Ansätze, nicht die Programme. Und das war schon vorher bekannt. Es gibt nur noch eine politische Möglichkeit: wie die zwölf nackten Matrosen von Ringelnatz durch schnelle Bewegungen ihre Blöße zu verbergen.

VEREINIGUNG OHNE IDEE. Angesichts der Zahlen wird nur noch gestritten, ob es im heißen Herbst oder schon im heißen Sommer in der DDR rund gehen wird. Die Straßen werden wieder so voll sein wie im Herbst 1989, voll von Protestierenden. Die verschiedenen Industriezweige, die Bauern, die Angestellten werden gegen die Arbeitslosigkeit demonstrieren. Zu der Angst vor der sozialen Not wird das Gefühl der Verzweiflung hinzukommen, blind in eine Falle gerannt zu sein. Der Gegner ist die Politik, die Verwaltung, das anonyme Oben: die Adressaten der Wut können die Verantwortung hin und herschieben. Ob das die Wahlchancen von Kohl schmälert, ist dennoch fraglich. Das Chaos wird so direkt erlebt, daß der Wunsch nach Sicherheit der erprobten Exekutive anvertraut wird und nicht der Kassandra. Vor allem sollte die Linke nicht darauf hoffen, in den Massenprotesten und sozialen Kämpfen eine politische Korrektur der bisherigen Vereinigungspolitik zu erreichen. Selbst wenn es der „Straße“ gelingt, den Kreditrahmen für die Sanierung der Betriebe hochzutreiben und LPGs staatliche Absatzgarantien bekommen: die Menschen in der DDR werden noch auf lange Zeit ein niedrigeres Lohnniveau, eine kürzere Lebenszeit und ihre kaputten Städte hinnehmen müssen. Hinzukommen die Demütigungen, daß solche halbgaren Optimisten wie Haussmann ihnen Kalenderweisheiten der Marktwirtschaft um die Ohren schlagen dürfen wie diese, daß die Sanierung der Infrastruktur der Privatinitiative anvertraut werden soll. Was bindet die Leute an niedrige Löhne, kaputte Städte, schlechte Luft? Deutsch sein allein reicht nicht. Es fehlt eine Idee der Vereinigung. Ohne Engagement, ohne Mobilisierung gesellschaftlicher Hoffnungen, ohne eine große Partizipation an einem Reformprojekt DDR oder Ostdeutschland gibt es keinen Grund, in diesem Land zu leben. Auf jeden Fall reicht es nicht, Bundesbürger zweiter Klasse zu sein. Aber die Möglichkeit dieser Idee ist durch die Tempopolitik genommen, ganz gleich ob die Kohl/deMaziersche Manipulation mit dem Wahltermin gelingen wird, sie beweist das Scheitern des Unternehmens Einheit.Die Deutschen schaffen es, aus einer großen historischen Chance eine Erfahrung der Angst, der Not, der Hoffnungslosigkeit zu machen.

Klaus Hartung