Noch 72 Tage DDR

■ Ohne Absprache mit den Koalitionspartnern schlug DDR-Ministerpräsident Lothar deMaiziere überraschend einen neuen Termin für die ersten gesamtdeutschen Wahlen vor. Die Union glaubt offensichtlich nicht mehr, bis zum 2. Dezember die drohende Wirtschaftskatastrophe verschleiern zu können. Doch der Vorschlag bedarf der Zustimmung der SPD - in Ost und West.

DeMaiziere will am 14. Oktober wählen

Noch bevor die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das gerade durchgedrückte Wahlrecht auch nur ansatzweise ausgeräumt waren, überraschte DDR-Ministerpräsident Lothar deMaiziere mit dem nächsten Paukenschlag im Einigungsprozeß: „Für die historisch so bedeutenden ersten gesamtdeutschen Wahlen schlage ich den 14. 0ktober 1990 vor“, lautete die schlichte Formulierung, mit der er gestern morgen im Ostberliner Pressezentrum nicht nur die Journalisten in ungläubiges Erstaunen versetzte. Auch der größte Koalitionspartner im DDR-Kabinett war zu diesem Zeitpunkt noch dabei, deMaizieres Überraschungscoup zu verarbeiten. Eine Absprache im Kabinett hatte es nicht gegeben.

Die entscheidenden Verhandlungen waren ohnehin mit Kanzler Kohl am Wolfgangsee geführt worden. Dort, so deMaiziere, der auf die Urheberschaft für den Wahlvorstoß Wert legt, habe er dem Kanzler sein Projekt zur weiteren Forcierung der staatlichen Einheit vorgestellt. Kohl habe zugestimmt.

Die Überraschung ist deMaiziere vor allem deshalb gelungen, weil die Vorverlegung der Wahlen geradezu auf eine Kehrtwendung seiner bisherigen Argumentation hinausläuft. Mit der Begründung, er sei den Interessen der DDR-Bürgern verpflichtet, boykottierte er den Beitritt der DDR vor den gesamtdeutschen Wahlen. Westliche Blätter begannen sich bereits auf deMaiziere als Einheitsfeind einzuschießen, nur weil der immer wieder auf die Fülle der noch vor dem Beitritt zu lösenden Fragen hinwies: Die Finanzierung der DDR-Länder, die Eigentumsfrage, die Sicherstellung der einheitsvertraglichen Regelungen nach dem Ende einer der beiden Vertagspartner.

Mit vier Argumenten versuchte deMaiziere seine Wende zu begründen und zugleich den naheliegenden Verdacht auszuräumen, sein Vorstoß sei, wie schon der Kampf ums unionskonforme Wahlrecht, in erster Linie parteitaktisch motiviert. In den Vordergrund stellte er die erfolgreiche zweite Verhandlungsrunde zum Einigungsvertrag, die allerdings zum Zeitpunkt der entscheidenden Konferenz am Wolfgangsee noch gar nicht begonnen hatte und die zum Zeitpunkt von deMaizieres Pressekonferenz noch nicht beendet war. Immerhin verbuchte deMaiziere schon mal die Absicherung des Einigungsvertrages im Grundgesetz, die Einrichtung eines Aufbauministeriums im zukünftigen Kabinett und die geplante Verwendung des Treuhandvermögens „zum Nutzen der neugebildeten Länder“ als Verhandlungserfolge. Auch die Frage der Eigentumsrechte schienen deMaiziere plötzlich kein Problem mehr, obwohl die immer wieder eingeforderte Erklärung zur Unantastbarkeit der Ergebnisse der Bodenreform noch immer aussteht.

Auch die außenpolitischen Vorbehalte seien, so deMaizieres zweites Argument, nach dem Treffen zwischen Kohl und Gorbatschow gegenstandslos. Daß die Einheit jetzt noch vor dem KSZE-Treffen vollzogen werden soll, scheint deMaiziere, der sonst immer die europäische Einbettung betont hat, jetzt unerheblich. Als drittes Argument bemühte deMaiziere das gerade beschlossene Wahlverfahren. Daß es dagegen mittlerweile erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gibt, die teilweise auch in Karlsruhe geteilt werden, wußte deMaiziere noch nicht. Auch das Gegenargument kaum einzuhaltender Wahlfristen läßt er angesichts des historischen Ereignisses nicht gelten.

Immerhin, mit seinem letzten Argument nähert sich deMaiziere dem eigentlichen Grund für die Hopplahopp-Wahlen: In den Bereichen Finanzen, Soziales, Wirtschaft, Handel und Landwirtschaft seien die „Probleme der Aufarbeitung von 40 Jahren sozialistischer Mißwirtschaft größer als erwartet“ voila. Der Bankrott der Betriebe sowie die Milliardenlöcher im Haushalt und bei den Sozialversicherungen haben bereits nach einem Monat D-Mark die ursprüngliche Kalkulation ad absurdum geführt, die Fassade einer sich regenerierenden Ökonomie ließe sich zumindest bis zum Dezemberwahltermin aufrechterhalten.

Allein darauf basierten die Wahlkalkulationen der deutsch -deutschen Unionisten. Weil derzeit niemand weiß, wie der Kollaps im Herbst auch nur verschleiert werden könnte, soll zumindest der schon gebuchte Wahlsieg der Union eingefahren werden. Offizielle Sprachregelung: Die noch zögernden westdeutschen Investoren benötigten die Rechtssicherheit der vollzogenen Einheit, ein Argument, mit dem zuvor bereits die schnelle Einführung der D-Mark begründet wurde. Der einzig unberechenbare politische Faktor für die Durchsetzung der Oktoberwahl sind die Sozialdemokraten. Gerade weil sie nach dem Unionskalkül nicht vom Währungsunionsbankrott profitieren dürfen, scheint ihr Widerstand gegen den frühen Termin programmiert. Doch auch bei der Durchsetzung des Dezemberwahltermins wollten sich die Sozialdemokraten der Drohung nicht aussetzen, als Einheitsfeinde diffamiert zu werden. Auch die Tatsache, daß deMaiziere es sich erlaubte, seinen Koalitionspartner kurz nach der Beilegung des Wahlrechtskonfliktes jetzt erneut zu brüskieren, zeigt, daß der Ministerpräsident mit ernstlichem Widerstand der SPD nicht rechnet. Die DDR-SPD jedenfalls wird im Zweifelsfalle nicht wahltaktisch reagieren, sondern angesichts der schier unlösbaren Probleme des Landes kapitulieren, und die Verantwortung für die DDR-Katastrophe in gesamtdeutsche Hände legen. Je schneller desto besser.

Matthias Geis