Viele Gründe für „schleichende Vergiftung“

■ Die Ursachensuche für die Giftbelastung am Hermsdorfer Kreuz geht weiter: Ist DDT an den Krankheitssymptomen schuld, Formaldehyd von Geflügelzüchtern oder Kampfgas aus dem Zweiten Weltkrieg?

Aus Hainspitz Thomas Worm

Das Umweltpuzzle im Gebiet Hermsdorfer Kreuz, das derzeit auf Initiative des Jenaer Neuen Forums in mühseliger Kleinarbeit zusammengesetzt wird, heißt „schleichende Vergiftung“. Zu seinen einzelnen Teilen gehören vernarbende Hautekzeme, anfallartige Sehstörungen, Verätzungen der Atemwege und „eine relativ hohe Krebsrate“, wie es im Zwischenbericht des Neuen Forums heißt. Das Bild ergänzt sich durch die Diagnose eines Militärarztes, der bei Betroffenen aus Hainspitz, Serba und Klengel eine Phosphorsäure-Esther-Vergiftung festellte, wie sie Kampfgase oder auch Insektizide hervorrufen (die taz berichtete).

Seitdem vergeht kaum ein Tag, an dem nicht Pressereporter oder Fernsehteams anreisen, um nach Giftgaslagern unter der Erde zu fahnden. Keine leichte Aufgabe angesichts der ökologischen und politischen SED-Altlasten. Zum einen sind da die Umweltsünden der Vergangenheit, Vergehen von geradezu katastrophaler Normalität wie etwa die Ausbringung des Insektenkillers DDT per Flugzeug. So hätte nach der vertraulichen Auskunft eines Parteifunktionärs „die ganze Gegend evakuiert werden müssen“, als zu Beginn der 70er Jahre ein Flugzeug DDT zuhauf abgelassen hatte. Fünf Jahre mußte die Ernte nur untergepflügt werden. Danach, wird erzählt, war die Gegend auf lange Jahre hinaus fast tot keine Singvögel, keine Grillen, keine Schmetterlinge, nur noch Menschen.

Ein Ausnahmefall? Wohl kaum, wenn man Siegfried Kubelke Glauben schenkt, der erzählt, daß hier „ganze Dörfer abgespritzt wurden, weil die Düse gleich offen blieb“. Welcher Gift-Mix sich dieserorts in der willfährigen Schadstoffdeponie Umwelt inzwischen angesammelt hat, lassen jene kleinen Horroranekdoten nur ahnen, die man sich beim Neuen Forum in der Jenaer Ex-Stasi-Zentrale erzählt. Etwa als Anwohner einer nahegelegenen sowjetischen Kaserne während der letzten acht Jahre zweimal feststellen mußten, daß ihr Trinkwasser nach krebserregendem Xylol schmeckte. Xylol dient als Verflüssiger von Flugtreibstoffen.

Die verantwortliche Schadstoffquelle ist unter diesen Bedingungen schwer dingfest zu machen, noch dazu, wenn das für die Bevölkerungsgesundheit zuständige Bezirkshygieneamt, wo noch die einstigen Kader das Sagen haben, womöglich seine Mitwisserschaft oder Duldung der schlimmen Zustände von gestern verschleiern möchte. Denn warum, so fragt man sich beispielsweise, stempelten die Amtsärzte den streitbaren Siegfried Kubelke zum Neurotiker, ihn, der gegenüber der bürokratischen Abwiegelei jahrelang auf seinen Krankheitssymptomen als Vergiftungserscheinungen beharrte (siehe Interview). Erst jetzt bietet das Amt, das durch einen Toxikologen verlauten ließ, daß im Trinkwasser des Klengeler Bereichs „absolut nichts zu finden ist“, seine Zusammenarbeit an.

Es blieb dem Neuen Forum Jena überlassen, die verstreuten Fakten aus Hunderten von Berichten aus der Umgegend zusammenzutragen, darunter neben der namentlichen Symptomschilderung einer ganzen Schulklasse die selbstorganisierte Befragung für die 400-Einwohner-Gemeinde Klengel/Trotz mit „mehreren Fällen von Lymphdrüsenkrebs, vier Fällen von Leberkrebs sowie andere Krebserkrankungen“ in den letzten acht Jahren.

Inwieweit nun Kampfgas mit im Spiele ist, soll eine Expertenkommission der NVA am morgigen Dienstag durch Boden -, Wasser- und Luftproben klären. Da das Gebiet um den Klengeler Forst nach NVA-Unterlagen mit einem Nazi -Bunkernetz gewissermaßen „unterkellert“ ist, könnten auch Restbestände alter Munitionsumschlagplätze mit den Vergiftungen in Verbindung stehen. Weil Symptome der Anwohner häufig dann auftraten, wenn der Wind aus Richtung des „Kombinats industrielle Mast“ (KiM) im Klengeler Forst blies, gerieten auch die mit Formaldehyd desinfizierenden Geflügelzüchter in Verdacht. Daß sich gar ein sowjetisches Giftgaslager auf dem Betriebsgelände verberge, konnte bei einer offiziellen Begehung nicht bestätigt werden.