: Mit den DDR-Kollegen zurück in die 50er?
■ Die Gewerkschaften in der Bundesrepublik fürchten Rückfall in kaum überwundene Zeiten / Themen wie Ökologie und Frauenbefreiung gehen an den Problemen der DDR-Kollegen vorbei / Wichtiger ist Erhalt des Arbeitsplatzes und höherer Lebensstandard / Es fehlt an gemeinsamer Diskussionskultur
Von Martin Kempe
Berlin (taz) - In den Zentralen der Westgewerkschaften grassiert die Angst vor einem Rückfall in die Vergangenheit. Der mühselige Versuch programmatischer Erneuerung, der vor allen von den beiden Großgewerkschaften IG Metall und ÖTV in den letzten Jahren vorangetrieben worden ist, droht im deutsch-deutschen Einigungsprozeß steckenzubleiben. Denn die neuen Mitglieder aus der DDR interessieren sich nicht für abgehobene Diskussionen um ökologische Gewerkschaftspolitik und kulturelle Offenheit. Ihnen geht es um die klassischen Motive gewerkschaftlicher Politik: die Angst um den Arbeitsplatz, Lohn und Lebensstandard. Eben diese Motive aber haben in der Bundesrepublik in den letzten Jahren eine Umwertung erfahren: Sie werden heute bewußt in einen politischen Zusammenhang zur Ökologie, zur Friedenssicherung, zur Geschlechterproblematik oder auch zur internationalen Solidarität gebracht.
Die Neuformulierung gewerkschaftlicher Ziele, die auch unter westdeutschen Gewerkschaftsmitgliedern längst noch nicht Allgemeingut geworden ist, stößt bei den DDR -Beschäftigten auf wenig Resonanz. Sie ist von ihren akuten Problemen und Bedürfnissen viel zu weit weg. Und so räumt ÖTV-Sprecher Rainer Hillgärtner zu den Aussichten der ÖTV -Zukunftsdebatte ein: „Einfacher wird es nicht.“
Auch im Westen
läßt der Elan nach
Aber im Gegensatz zu vielen anderen ist ihm um die Zukunft der gewerkschaftlichen Zukunftsdebatte nicht bange. Letztlich gehe es auch in der DDR um den Aufbau eines modernenen öffentlichen Dienstes. Hillgärtner versucht, Optimismus zu verbreiten, wo andere GewerkschafterInnen von den düstersten Ahnungen befallen werden: Die deutsch -deutsche Vereinigung der Gewerkschaften, so befürchten viele GewerkschafterInnen, könnte die innergewerkschaftliche Modernisierungsdebatte um Jahre zurückwerfen. „Was wir uns in der Bundesrepublik an Diskussionskultur, Offenheit und Modernität mühsam erarbeitet haben“, so stellte ein in der DDR eingesetzter IG-Metall-Funktionär gegenüber der taz fest, „das interessiert die Leute hier doch gar nicht.“
Und der Elan im Westen hat auch nachgelassen: Seit die Apparate der Westgewerkschaften mit dem Aufbau gewerkschaftlicher Strukturen in der DDR beschäftigt und überlastet sind, ist die programmatische Diskussion nahezu völlig zum Erliegen gekommen. Alles dreht sich nur noch darum, beim Wettlauf mit den Arbeitgebern um die Organisation der sozialen Interessen in der DDR nicht unaufholbar zurückzufallen.
Intellektuelle Diskussionen stagnieren
Der stellvertretende Vorsitzende des ÖTV-Bezirks Hessen, Hannes Koch, räumt ein, daß es mit der politischen Umsetzung der ÖTV-Diskussion „Zukunft durch öffentlichen Dienst“ langsamer geht, „als wir das eigentlich wollten“. Er hebt dabei jedoch die hauseigenen Widerstände in der eigenen Organisation hervor. Denn sowohl bei der ÖTV als auch in der IG Metall ist die Diskussion um die Zukunft weitgehend auf die mittlere bis höhere Funktionärsebene beschränkt. An der Basis hat sie immer noch nicht richtig Fuß gefaßt. Wenn der hauptamtliche Apparat, der bislang die Debatte vorangetrieben hat, nun durch die DDR-Aktivitäten absorbiert sei, drohe Stagnation. Und Stagnation, so ein anderer ÖTV -Funktionär des in der Modernisierungsdiskussion besonders engagierten Hessenbezirks, „ist im Prozeß intellektueller Auseinandersetzung gleichbedeutend mit Rückschritt“.
Auch Karl-Heinz Blessing aus dem Stab des IG Metall -Vorsitzenden Steinkühler räumt ein, daß das „neue Denken“ in der eigenen Organisation auf zähe Widerstände trifft, die durch die neuen Mitglieder aus der DDR möglicherweise noch bestärkt werden könnten. Einerseits, so Blessing, erfordere die ökologische und ökonomische Situation in der DDR nicht die unhinterfragte Erhaltung der bestehenden Industriestrukturen, sondern eine vorausschauende, ökologisch orientierte Politik des Strukturwandels. Die könnte an Strategien anknüpfen, die in den letzten Jahren von der Metallgewerkschaft in westlichen Krisenbranchen entwickelt wurden. Auf der anderen Seite aber fehlt vielen DDR-Menschen der gesellschaftliche Diskussionsprozeß über neue Werthaltungen und Lebensqualitäten, der auch in der Bundesrepublik Jahrzehnte gedauert hat, bis er für die Gewerkschaften politikfähig wurde. In der DDR, so Blessing, wüchse vor allem den Industriegewerkschaften wieder ein Typus zu, der in der Bundesrepublik schon seit längerem im Schwinden begriffen ist: der einseitig an Erhöhung des materiellen Lebensstandards interessierte Industriearbeiter, der die Bedingungen und Folgen der Produktion nicht hinterfragt und allen neuen, qualitativen politischen Inhalten in konservativer Abwehrhaltung begegnet.
Konservative Strömungen bekommen Oberwasser
Ein seit einigen Monaten in der DDR eingesetzter IG-Metall -Funktionär, der nicht genannt sein will, hat inzwischen die Nase gestrichen voll. Er vermißt bei den IG-Metallern (Ost) jede Eigenintitiative. „Die suchen immer noch nach einer Autorität.“ Es müsse jetzt eben nur eine andere sein. In Diskussionen trauten sich die DDR-Beschäftigten nicht, ihre Meinung offen zu vertreten und „wenn sie dann doch mal was sagen, dann haben sie kein Durchhaltevermögen“. Diese willenlose Folgebereitschaft der Neumitglieder aus dem ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat macht ihm Angst. „Die Westgesellschaft ist aufgeschlossener, toleranter, multikultureller“, schwärmt der Funktionär, der ansonsten keineswegs zu den Apologeten der bundesdeutschen Verhältnisse zählt. Er fürchtet zumindest zeitweilig einen „Rückmarsch in die fünziger Jahre“, wenn sich die Gewerkschaft nicht bewußt gegen einen derartigen Rückfall hinter den erreichten Diskussionsstand zur Wehr setze. Denn allzu leicht könne es geschehen, daß konservative Strömungen in den Westgewerkschaften, die schon immer gegen die Öffnung der Gewerkschaften zu den „neuen sozialen Bewegungen“ zu Felde gezogen sind, nun wieder Oberwasser gewinnen.
In der Frankfurter IGM-Zentrale scheint man diese Gefahr zu sehen. Denn kürzlich entschied der Vorstand, einen für den November geplanten Kongreß zur alternativen Verkehrspolitik, auf dem die Gewerkschaft über ökologisch orientierte Verkehrskonzepte beraten will, trotz aller deutsch-deutschen Anspannungen stattfinden zu lassen. Da wird es um die Eindämmerung des Individualverkehrs gehen, auch wenn die neugewonnenen Mitglieder in der DDR noch so blindwütig im Motorisierungstaumel schwelgen.
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