Demokratischer Notstand

■ Der Wille zum Machterhalt bestimmt die Politik der Bonner und der Ostberliner CDU

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De Maizieres Botschaft ist angekommen. Sein Vorschlag, Beitritt und gesamtdeutsche Wahlen noch einmal vorzuverlegen, ist das Eingeständnis einer gescheiterten Politik. Unerwartet schnell wird beiden deutschen Regierungen die Rechnung für das populistisch-desaströse Unternehmen mit der schnellen D-Mark präsentiert. Jetzt rächt sich, daß das Jahrhundertexperiment politisch, nicht aber ökonomisch kalkuliert war. Doch der ökonomische Bankrott gefährdet nun auch die zynische Spekulation, wenigstens bis Dezember ließe sich die Potemkinsche Fassade aufrechterhalten. Jetzt reagieren die Machtpolitiker aus Bonn und Ost-Berlin in einer Mischung aus Panik und Skrupellosigkeit. Bis Dezember werden die DDRler sich kaum belügen lassen, bis Oktober vielleicht. So wird ihnen jetzt der unionsnotwendige Forcierungsschub auf dem Weg zur staatlichen Einheit - wie zuvor schon die Währungsunion als eigentliche Initialzündung für den ökonomischen Gesundungsprozeß verkauft; die Formelkompromisse bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag werden zu Durchbrüchen bei der Sicherung von DDR-Interessen stilisiert. Schwer zu entscheiden, was schockierender ist: Die Entpuppung deMaizieres als abgebrühter Durchhaltetyp in der schier aussichtslosen Pose des Rechthabers - oder die Verlogenheit seiner Begründung.

Die Kaltschnäuzigkeit, mit der die Revision der Terminplanung durchgesetzt werden soll, markiert einen wahrhaft qualitativen Sprung an Zynismus. Der Siegeswille der Union, der auch vor der drohenden Katastrophe nicht scheut, entwickelt sich zur einzig verläßlichen Größe im Einheitsprozeß. Bedroht wird dadurch das ohnehin prekäre Gleichgewicht einer Gesellschaft, die schon seit Monaten zwischen Euphorie und Hoffnungslosigkeit gehalten wird; bedroht scheint darüber hinaus nun auch die Chance einer demokratischen Lösung des ohnehin schwer belasteten deutschen Experiments. Wenn für den puren Machterhalt das Grundgesetz gebeugt und für den Wahlsieg schonmal der Notstand einkalkuliert werden, scheinen bisher kaum denkbare Polit-Alpträume zunehmend realistisch.

Gefordert sind jetzt die Sozialdemokraten, die sich bislang mit der Rolle warnender Mitläufer begnügt haben. Ihr Veto zum Wahlcoup ist ebenso zwingend wie die Kopplung des Einigungsvertrages an ein ungeschminktes Szenario dessen, was die Deutschen in Ost und West in den nächsten Monaten erwartet. Nur wenn die SPD die Diffamierung, „Einheitsfeind“ zu sein, in Kauf nimmt, kann sie noch ihrem Anspruch auf Verantwortung für das Einheitsexperiment gerecht werden.

Matthias Geis