Linke aller Parteien, vereinigt Euch!

■ PDS-Chef Gysi auch in Frankfurt/Main gefeiert / Karsten Voigt als böser Sozialdemokrat / Grüner Ströbele ruft zum Kampf gegen „deutsche Kolonisationsbedrohung ganz Europas“ auf und wirkt wie ein Vertreter von linker Stiftung Warentest

Aus Frankfurt Reinhard Mohr

Schon kurz nach zehn Uhr war der größte Hörsaal der Frankfurter Universität überfüllt. Trotz tropischer Temperaturen versammelten sich am Samstag morgen mehr als tausend Neugierige, um den ersten Auftritt des PDS -Vorsitzenden Gregor Gysi in der westdeutschen Finanzmetropole - eine Woche nach der Kölner Gründungserklärung der Wahlpartei „Linke Liste/PDS“ - nicht zu versäumen. Schon im Vorfeld hatte die Veranstaltung der Frankfurter Jungsozialisten in der SPD für Wirbel gesorgt. Die Unterbezirksvorsitzende war empört, die CDU äußerte Abscheu, und die FDP zeigte sich „bedrückt“. Obwohl der SPD -Bundestagsabgeordnete Karsten Voigt und der grüne Vorstandssprecher Christian Ströbele als diskursives „Gegengift“ neben Gysi auf dem Podium saßen, sahen sich die Jusos veranlaßt, eine zweiseitige Rechtfertigungserklärung für ihre Diskussion über die „Zukunft des Sozialismus Sozialismus ohne Zukunft?“ zu verlesen.

Bevor es losging, mußte das erwartungsfrohe Publikum eine weitere Distanzierung über sich ergehen lassen: Die „Linke Liste“ an der Frankfurter Universität, ein Hort undogmatisch linksradikalen Denkens, beschwerte sich über den „unverschämten Namensklau“ durch Gysi & Freunde. Nachdem die SED „45 Jahre lang Mist gebaut“ habe, vollziehe sie nun den bruchlosen Wechsel zur Marktwirtschaft. Die PDS sei weder antikapitalistisch noch antiautoritär, sondern etatistisch, reformistisch und bürokratisch. Ihr kruder Keynesianismus kenne „keinen Ausbeutungsbegriff mehr“. In Wirklichkeit, so das Urteil der linken Kritiker Gregor Gysis, vertrete die PDS schlicht „sozialdemokratische Positionen“.

Linke Kritik: PDS sozialdemokratisch

Das nun war der schlimmste Vorwurf, den man in diesem Saal erheben konnte. Karsten Voigt bekam das zwei Stunden lang zu spüren. Mit dem Versuch, den Freiheitsbegriff in die linke Debatte zu bringen und die neue PDS-Rhetorik mit der Kontinuität alter SED-Traditionen zu konfrontieren, zog er an diesem Tag reflexhaft die linke Wut auf sich. Voigts Beharren auf einer gründlichen Auseinandersetzung mit dem Scheitern des real existierenden Sozialismus wurde mit Unmutsäußerungen und Zwischenrufen quittiert: „Kriegskredite!“, hieß es da, oder „Stammheim!“, „Berufsverbote!“ und: „Red doch lieber mal über die Geschichte der SPD!“ Daß die versammelten Ex-und Noch -DKPler, Altmarxisten und Neulinken, Grünen und Linkssozialdemokraten, Gewerkschafter und sonstige fortschrittlichen Menschen ihre eigene Geschichte lieber ruhen lassen, um sich auf eine neue linke Zukunft vorzubereiten, zeigte sich am unüberhörbaren Genuß der rhetorischen Kunststücke von Gregor Gysi.

Frenetischer Beifall für jeden gelungenen Seitenhieb gegen sozialdemokratische Kritik und konservative Doppelmoral, Begeisterung für jede Sottise. Gleich zu Beginn setzte er die Duftmarke. 1933 sei der Ausgangspunkt der aktuellen Debatte. Von dieser Niederlage habe sich die Linke „bis heute nicht erholt“. Ohne den Beitrag der stalinistischen Komintern-Politik zum Sieg des Faschismus zu erwähnen, beantwortet er Voigts Erinnerung an linke Schande mit der Reminiszenz an die historische Größe ihrer Niederlage. Das linke Moralbedürfnis atmet auf, Wir-Gefühl wabert durch den Saal. „Die Geschichtsaufarbeitung ist noch nicht auf dem Stand, auf dem sie sein sollte“, sagt Gysi einschränkend. „Aber ihr hattet ja vierzig Jahre Zeit dafür!“ Daß bei den ZuhörerInnen davon wenig zu spüren ist, mag auch daran liegen, daß der PDS-Vorsitzende selbst das Bedürfnis nach Kritik und Zweifel bedient, die für eine neue linke Identität unentbehrlich sind: „Wir bringen ja einen Haufen negativer Erfahrungen mit. Ist das vielleicht nichts?!“ und schon fällt der Beifall herab wie ein warmer, sommerlicher Regenschauer. Gysis brillanter Metadiskurs läßt nichts aus und macht es jedem Diskutanten schwer, die „Glaubwürdigkeitslücken“ aufzuspüren. Wie der Igel vor dem Hasen ist er immer schon vor den Attacken zur Stelle, um mit Witz, Schlagfertigkeit und persönlicher Integrität Kontinuität und Bruch der „sozialistischen Idee“ zum Bild einer neuen, linken Partei zu vereinigen. „Die Geschichte braucht auch eine Adresse“, fordert er und reklamiert das linke Gesamterbe, an dem sich die Linken aller Parteien aktiv beteiligen sollen.

Neues Markenprofil

für sozialistische Partei

Wie ein PR-Stratege, der ein neues Markenprofil entwerfen muß, zieht er einen Kreidestrich zwischen SED und PDS, der durchlässig genug ist, um „glaubwürdig“ zu sein, aber auch so dick, daß die „Chancen für einen neuen Sozialismus als Prozeß umfassender Demokratisierung“ nicht von der Vergangenheit verdunkelt werden. Daß Gysi den Begriff „links“ absichtlich im Ungefähren läßt, fördert nur Image und Attraktivität der angestrebten „Mischung aus Partei und Bewegung“. Während die SPD ängstlich und aggressiv auf Abgrenzung bedacht ist, vermittelt der neue Hoffnungsträger vieler ost- und westdeutscher Linken lässige Souveränität und die Gewißheit, nichts mehr verlieren zu können. Je mehr die SPD ihn für eine ansteckende Krankheit hält, desto überzeugender präsentiert er sich als mutiger Asterix, der Balsam für die geschundenen Seelen der Linken bereithält.

Während Voigt wie ein Rufer in der Wüste wirkte, spielte Ströbele den Vertreter der linken Stiftung Warentest. Kritisierte er Voigt wegen der SPD-Zustimmung zum „undemokratischen Wahlrecht“, so prüfte er Gysis Linkstauglichkeit an der Atomenergie, der Marktwirtschaft und dem RAF-Asyl in der DDR. Während Ströbele ungerührt den Aufruf eines Frankfurter Grünen zur Wahl der PDS zur Kenntnis nahm, rief er selbst zum Kampf gegen die „Kolonisationsbedrohung des großen deutschen Reiches“ gegenüber „ganz Europa“ auf.