Akropolis adieu

■ Eine Legende wird seziert

„Weh mir! was leid‘ und sag‘ ich, und was schreib‘ ich hier!

Athen bewohn‘ ich und doch schau‘ ich nicht Athen,

Nur öde Herrlichkeit bedeckt mit grausem Schutt,

O Stadt des Jammers, wo sind deine Tempel hin? ...

Ein Untergang verschlang den ganzen Ruhm Athens,

Kein Pulsschlag lebt davon, kein kleinstes Merkmal mehr.“ (Aus der Elegie des Bischofs Michael Choniates

12.Jhdt.

Wenn zwei Archäologen ein Buch über die Akropolis schreiben, so könnte man als Resultat entweder ein weiteres Kompendium gelehrten Universitätswissens oder einen schulmeisterlichen Kunstführer, der die Ansprüche eines reisewütigen Bildungsbürgertums bedient, vermuten. Doch hinter dem unscheinbaren Titel, der eher an einen aktualisierten Baedeker denken läßt, verbirgt sich ein aufsehenerregendes Werk, dessen Aussagen nicht nur im Wissenschaftsdiskurs brisante Sprengwirkung erwarten lassen.

Lambert Schneider und Christoph Höcker schicken den Leser auf eine spannende Spurensuche, in deren Verlauf er alles über die Geschichte dieses Monumentes erfährt, von seiner frühesten mykenischen Besiedlung über die klassische Blüteperiode bis zum Verfall Athens. Doch vor allem unternimmt er eine Reise durch die Morphologie europäischen Denkens. Diese Reise führt ihn kreis- bzw. spiralförmig wie die Autoren selbst ihre Vorgehenswese beschreiben - „von der Gegenwart zur Vergangenheit und wieder zurück zu dem, was heute daraus geworden ist“ (S.8).

Wer die Akropolis bisher als steingewordenes Vermächtnis antiker Kultur betrachtet hat, wird bereits im ersten Kapitel des Buches gründlich desillusioniert. Was sich dem Touristen heute auf diesem Felsen über der griechischen Metropole darbietet, ist eine künstliche Ruinenlandschaft, die ihr Aussehen weitgehend den Grabungs- und Restaurierungsarbeiten der letzten 150 Jahre verdankt. Nachdem im Zuge der westeuropäischen Hellenen-Begeisterung eine aus ganz Europa zusammengewürfelte Armee von Abenteurern die Türken aus Griechenland vertrieben hatte und Otto von Wittelsbach 1832 als griechischer Monarch installiert worden war, machte man sich bald an die geistige und materielle Annexion griechischer Kulturgüter. Besonders die Akropolis erschien den patriotischen Griechen und den schwärmerischen Westeuropäern als Wahrzeichen hellenistischer Klassik. Doch was sie dort vorfanden, entsprach keineswegs ihren Idealen, sondern war „ein unregelmäßiges, buntes, verwirrendes und trümmerhaftes Gebilde - Ablagerung und Spur eines jahrtausendelangen Zusammentreffens unterschiedlichster Kulturen“ (S.258f.). Also begann man, die Akropolis nach eigenen Vorstellungen von griechischer Antike umzuformen, und besonders deutsche Archäologen taten sich bei dieser Metamorphose hervor: Man errichtete die Gebäude wieder soweit, bis sie den Ansprüchen romantischer Ruinenästhetik gerecht wurden; was zu neu wirkte, wurde absichtsvoll beschädigt, um es authentisch erscheinen zu lassen; was nicht ins Idealbild paßte, wurde abgerissen. So entstand „ein unauflösbares Agglomerat von echten Ruinenteilen, modern rekonstruierter 'intakter‘ Antike und schließlich moderner Ruinenattrappe“ (S.59). Der so angerichtete wissenschaftliche Schaden ist weit höher anzusetzen als der der Kunstraubzüge Lord Elgins um 1800. 150 Jahre zuvor war es übrigens mit der europäischen Antikeneuphorie noch nicht so weit her gewesen: Als venezianische Truppen 1687 die Akropolis belagerten, deponierte die türkische Besatzung ihre Pulvervorräte im Parthenon, in der Erwartung, die Christen würden dieses abendländische Monument verschonen. Doch die Angreifer zeigten keinerlei Respekt vor dem vermeintlichen Kulturgut, und das wohlgezielte Geschoß eines Lüneburger Leutnants zerlegte das Bauwerk in seine Einzelteile.

Christoph Höcker und Lambert Schneider ist es gelungen, die „Entstellungsgeschichte“ der Akropolis bis ins 20.Jahrhundert hinein zu dokumentieren, und sie liest sich wie eine Kriminalgeschichte. Gerade vor dem Hintergrund aktueller Überlegungen zur Konservierung der Gesamtanlage erhalten ihre Recherchen besondere Brisanz. So haben Schweizer Architekten vorgeschlagen, die Akropolis - gleich einer megalomanen Tennishalle - mittels einer aufgeblähten lichtdurchlässigen Hülle zu überdachen und sie so vor den zersetzenden Einflüssen der Athener Autohölle zu bewahren. Die Vorstellung, daß dieses gigantische archäologische Präservativ letztlich ein in der Neuzeit konstruiertes, Antike suggerierendes Ensemble behüten würde, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Der witzige Punkslogan „Mythen in Tüten“ würde so im wahrsten Sinne des Wortes in die Tat umgesetzt werden.

Daß nach dem spurenverwischenden Wüten englischer Kunsträuber und deutscher Archäologen doch noch ein anschauliches Bild vom antiken Leben auf der Akropolis gezeichnet werden kann, demonstrieren die Autoren im zweiten Teil ihres Buches in eindrucksvoller Weise. In einer auch für den Laien verständlichen Sprache (archäologische Fachtermini werden in einem Glossar erläutert) und mit Hilfe hervorragenden Bildmaterials sowie Literaturzitaten bringen sie eine versunkene Welt wieder so lebhaft zum Vorschein, wie sie dem Leser wohl selten zuvor in einer seriösen Publikation vor Augen geführt worden ist. Schneider und Höcker liefern zudem eine eindringliche Studie von der Psychologie des antiken griechischen Menschen und der Soziologie seiner Gesellschaft, die die Ferne dieser Zeit vergessen macht; so unmittelbar und gegenwärtig, wie dies kürzlich dem britischen Historiker Simon Schama mit seinem Psychogramm der holländischen Kultur des 17.Jahrhunderts gelungen ist.

Die Autoren beenden die Zeitreise mit einem Ausblick auf die Bedeutung der Akropolis für die heutige nationale Identität der Griechen als Erben der Antike, die sich hinsichtlich der wechselvollen Geschichte dieser Region mit ihren zahlreichen volks- und kulturvermischenden Einflüssen als Mythos erweisen muß. Ein Mythos, der behelfs dieses sinnstiftenden Monuments „griechischer Historie“ gestützt werden soll, sei es auch noch so ahistorisch. Die Forderungen, die sich daraus für die Archäologen ableiten, berühren den sensiblen Bereich nationaler Legitimation Griechenlands.

Abschließend stellen die beiden Autoren die - rhetorische Frage: Archäolgoie und kein Ende? Nach der Lektüre muß man antworten: Hoffentlich, wenn sie so verstanden wird! Lambert Schneider und Christoph Höcker eröffnen mit ihrer Arbeit der klassischen Archäologie, die sich seit einigen Jahrzehnten in einer tiefen Sinnkrise befindet und innerhalb der Kulturwissenschaften in selbstgewählter Agonie dahinzudämmern droht, neue Perspektiven als eine moderne Wissenschaftsdisziplin, die mit einem bewährten Instrumentarium den öffentlichen Diskurs kritisch begleiten und befruchten kann und zu interdisziplinärer Arbeit mit anderen Fächern und Institutionen beiträgt.

Leider ist es selbst einem renommierten und erfahrenen Verlag wie DuMont trotz seines technischen Know-hows anscheinend nicht möglich, eine fehlerfreie Edition vorzulegen. Mehrere Abbildungen wurden seitenverkehrt wiedergegeben, einige sogar auf den Kopf gestellt. Diese Fehler sind zwar meist so augenfällig, daß sie auch für den Laien als solche erkennbar und somit nicht allzu relevant sind; eine sehr schöne (aber seitenverkehrte) hypothetische Rekonstruktionszeichnung der Akropolis im 6.Jahrhundert v.Chr. ruft jedoch Irritation hervor; so wird die liebevolle Sorgfalt des Zeichners desavouiert.

Der unter kommerziellen Gesichtspunkten verständlichen Eile des Hauses DuMont, das Werk noch rechtzeitig zur Reisesaison auf den Markt zu bringen, sollte eine angemessene Sorgfalt bei der Edierung nicht zum Opfer fallen.

Dem Buch ist zu wünschen, daß diese Irrtümer in der nächsten Auflage behoben werden, damit der hervorragende Gesamteindruck nicht mehr geschmälert wird.

Hans Thomas Carstensen

Lambert Schneider/Christoph Höcker: Die Akropolis von Athen - Antikes Heiligtum und modernes Reiseziel. DuMont Buchverlag, Köln 1990, DM 39,80