Chinesische „Konterrevolutionäre“ in Berlin?

■ Chinesen, die sich an der Demokratiebewegung beteiligt haben, sind auch in der Bundesrepublik nicht sicher / Fast alle Asylanträge sind bisher abgelehnt worden / Ein geheimes Strategiepapier der chinesischen Regierung macht ihnen angst

Von Henrik Bork

„Ich weiß nicht, wie lang ich das noch durchhalte.“ Der 25jährige Chinese Bao Limin ist verzweifelt. Bao, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Mathematik der Technischen Universität Berlin, hat keinen gültigen Paß mehr. Die chinesische Botschaft in Bonn hat die Verlängerung seines Dokuments abgelehnt, ohne Begründung. „Die ist auch gar nicht nötig“, sagt Bao, „jeder in Deutschland kennt mich als aktives Mitglied der Föderation für ein demokratisches China.“ Und diese Vereinigung von Exilchinesen, gegründet als Reaktion auf das Pekinger Massaker vom 4.Juni 1989, ist in China längst als „konterrevolutionäre Vereinigung“ amtskundig.

Als Bao vor drei Jahren als Promotionsstudent nach Berlin kam, ahnte er noch nichts von seiner jetzigen Rolle als Regimegegner. „Wie die meisten meiner Mitstudenten habe ich mich wenig für Politik interessiert. Doch nach den schrecklichen Fernsehbildern aus Peking konnte ich doch nicht einfach so tun, als sei nichts geschehen“, sagt der Wissenschaftler. Ein paar Flugblätter hat er geschrieben und verteilt, auf denen die chinesische Regierung für ihr brutales Vorgehen gegen die eigenen Studenten verurteilt wurde. Zusammen mit anderen organisierte er Solidaritätsdemonstrationen, zuletzt am Jahrestag des Massakers vor der Gedächtniskirche.

Nun hat Bao Angst, nach China zurückzukehren. „Die chinesische Botschaft hat an allen Universitäten in Deutschland ihre Spitzel“, sagt er. Für jeden Chinesen gebe es eine Personalakte, das sei hier nicht anders als daheim in China. Es ist schon vorgekommen, daß Chinesen, die nach Deutschland reisten, ihre Akte - selbstverständlich versiegelt - selbst mitbringen mußten. Jedes Jahr wird von der jeweiligen Arbeitsstelle eine Beurteilung in diese Akte eingetragen, die auch das politische Verhalten festhält. „Die Akte begleitet dich dein Leben lang“, erklärt Bao, „und wenn das politische Klima umschlägt, kann sie dir jederzeit zum Verhängnis werden.“

Daß in Baos Akte in der chinesische Botschaft in Bonn schon einiges steht, daran gibt es für ihn keinen Zweifel. Wie sonst sei der folgende Vorfall zu erklären: Vor zwei Wochen klopfte es plötzlich an der Wohnungstür von Familie Bao in Shanghai. Zwei Polizisten in Zivil eröffneten den verdutzten Eltern Bao Limins, ihr Sohn werde schon sehen, wohin er mit seinen „Aktivitäten“ noch komme. Ein Freund schmuggelte einen Brief der Eltern über Hongkong nach Berlin, in dem sie sich besorgt erkundigen, was das zu bedeuten habe.

Ohne einen gültigen Paß kann Bao nun auch seine Aufenthaltsgenehmigung nicht mehr verlängern lassen. Und ohne diese ist auch sein Arbeitsverhältnis in Gefahr. Denn die Uni beschäftigt ihn nur, solange er eine gültige Aufenthaltserlaubnis hat. Warum er keinen Asylantrag stelle, will ich wissen. „Überlegt hab‘ ich das schon“, sagt Bao, „aber dann habe ich gehört, daß sämtliche Asylanträge von Chinesen in der Bundesrepublik bisher abgelehnt worden sind.“

„Das stimmt so nicht“, wehrt sich Wolfgang Weickhardt, Pressesprecher des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Zirndorf. Es habe auch schon einige Anerkennungen gegeben - Zahlen will er jedoch nicht nennen. Eine Statistik werde nicht geführt, da Asylanträge von Chinesen im Vergleich zu denen von Türken und Jugoslawen sehr selten sind. Weickhardt spricht von „etwa 200 Anträgen“ und räumt ein: „Nach dem 4.Juni 1989 hatten wir mit einem Hochschnellen der Antragszahlen gerechnet. Das ist nicht eingetreten.“

Kein Wunder, schaut man sich einmal einen der Ablehnungsbescheide an, der als Fotokopie unter den Chinesen in Berlin kursiert. Die Beamtin Berger aus Zirndorf mit dem schönen Titel „Entscheiderin“ schreibt: „Den Antragstellern drohen bei einer Rückkehr in die VR China staatliche Verfolgungsmaßnahmen, die politischen Charakter hätten, da sie der Aufrechterhaltung des kommunistischen Herrschaftssystems dienen. Daraus können sie jedoch keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte herleiten, weil es sich bei diesem Vorbringen um sogenannte subjektive Nachflucht-Tatbestände handelt, die die Antragsteller aus eigenem Entschluß geschaffen haben.“ Wer hier Asyl erhalten wolle, so der Bescheid der Entscheiderin, müsse den Nachweis erbringen, daß dieser „Nachfluchtgrund“ die Folge einer „seine Identität prägende“ und schon im Heimatland „nach außen kundgegebenen Lebenshaltung“ sei. „Wie bitte schön soll ich das beweisen?“ fragt Bao, und er lacht dabei. Doch seine Enttäuschung wird deutlich, als er diese Asylpraxis mit einer bitteren Bemerkung kommentiert: „In ganz Deutschland gibt es zur Zeit etwa fünftausend chinesische Studenten. Während des Zweiten Weltkriegs hat allein Shanghai mehr deutsche Juden aufgenommen.“ Viele Chinesen in der Bundesrepublik trauen sich schon deshalb nicht, einen Asylantrag zu stellen, weil sie Repressalien für ihre Familienangehörigen daheim befürchten.

Wie wenige „schlechte Elemente“ es unter ihren Auslandsstudenten gibt, wissen auch die Machthaber in Peking. In einem geheimen Strategiepapier, das der Diplomat Xu Lin bei seiner Flucht aus der chinesischen Botschaft in Washington mitnahm, kann man es nachlesen: „Diejenigen Studenten, die sich aktiv an regierungsfeindlichen Aktivitäten beteiligen, betragen 10 Prozent. Der Kern besteht aus etwa 100 Personen.“ Und das Papier, verfaßt von der staatlichen Erziehungskommission und unterschrieben von Ministerpräsident Li Peng, gibt auch klare Anweisungen, wie mit ihnen zu verfahren sei: „Die Hauptkräfte, die sich an konterrevolutionären Aktionen beteiligen, müssen wir bloßlegen und angreifen. Geheimarbeit soll die Kampfmethode sein. Bei ausreichenden Beweisen muß ihnen ihre Identität als Studierende aberkannt werden. Sie müssen aufgefordert werden, sämtliche Kosten ihres Auslandsstudiums zurückzuzahlen. Ihre Pässe dürfen nicht verlängert werden. Ihre ursprünglichen Dienststellen müssen sie entlassen.“ Das Strategiepapier zitiert namentlich einige chinesische Studenten in den USA und in Kanada. Ohne Zweifel sollen diese „Richtlinien“ aber auch in Deutschland und anderen Ländern angewandt werden. So ist es sicherlich kein Zufall, daß Baos Paß nicht verlängert worden ist.

Thomas Sönke-Kluth vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg schätzt, daß nach dem 4.Juni 1989 etwa 50 Mitarbeiter des chinesischen Geheimdienstes in die Bundesrepublik eingereist sind, um ihre Landsleute auszuhorchen. „In der Demokratiebewegung aktive Studenten und Wissenschaftler müssen nicht nur nach ihrer Rückkehr nach China mit Sanktionen rechnen, sie werden von den chinesischen Sicherheitsbehörden auch hier unter Druck gesetzt“, sagt Sönke-Kluth. Viele von ihnen seien in den diplomatischen Vertretungen in Bonn, Hamburg und München unter Hinweis auf Fotos und Videoaufnahmen über ihre Teilnahme an den Protestkundgebungen ausgefragt worden.

In China hat es seit der Niederschlagung der Demokratiebewegung Hunderte von Hinrichtungen gegeben, über die in chinesischen Medien jedoch laut Anordnung nur in vereinzelten Fällen und „zu erzieherischen Zwecken“ berichtet wird. Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international und Asia Watch sind derzeit zwischen 10.000 und 30.000 Menschen wegen ihrer Teilnahme an den Protesten inhaftiert. Wer überhaupt ein Gerichtsverfahren erlebt, muß, wenn schon nicht mit der Hinrichtung, so doch mit einer langjährigen Haftstrafe rechnen. Einer der wenigen Fälle, die publik wurden, ist das Urteil gegen den 26jährigen Lehrer Chen Zhixiang, der in Kanton zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt worden ist, weil er „konterrevolutionäre Parolen“ geschrieben haben soll.

Vergangenes Jahr beschloß der Westberliner Senat, denjenigen Chinesen, die nicht bei ihrer Botschaft um die Verlängerung ihres Passes anfragen wollen, einen auf ein Jahr befristeten Fremdenpaß auszustellen. Nach einer Absprache zwischen dem Bundesministerium des Inneren und den Innenministern der Länder gilt zur Zeit noch die Regelung, die Aufenthaltserlaubnis der Chinesen, die vor dem 4.Juni 1989 in die Bundesrepublik eingereist sind, um jeweils ein weiteres halbes Jahr zu verlängern. Ende dieses Jahres soll auf einer Expertenanhörung die politische Situation in China analysiert werden. Dann soll eine endgültige Regelung getroffen werden. „Wenn diese 'Experten‘ zu dem Ergebnis kommen, daß sich die Lage in China normalisiert hat, muß ich ohne gültigen Paß mit meiner Abschiebung nach China rechnen“, sagt Bao. Das schlimmste an der jetzigen Situation sei die Ungewißheit, das Warten. Bao überlegt schon, wie er dann seine Haut retten kann: „Ich kann es mit einer Selbstkritik versuchen, in der ich mich reuevoll von der Demokratiebewegung lossage. Ob mir das etwas nützt?“ Wer weiß?