Mit drei Jahren vom „Führer Lenin“ erzählt

■ Eltern in Ost-Berlin suchen nach neuen Wegen, Räumen und Geldgebern für die Kleinkinderziehung / Kein Vertrauen zur „Wende in den Köpfen“ der staatlichen ErzieherInnen / Das Bildungsministerium sieht „enormen Handlungsbedarf“

Ost-Berlin. Karla hämmert mit ihrer roten Plastiktasse auf den Tisch, Lea bindet der Puppe Paul ein Lätzchen um, Joscha klaut Till eine Kartoffel vom Teller - Mittagszeit in der Kindertagesstätte „Pustekuchen“ in Prenzlauer Berg. Seit einigen Wochen testen hier zehn Kinder und vier BetreuerInnen, wie Erziehung jenseits der staatlichen Krippen und Kindergärten aussehen kann. In vielen Stadtteilen Ost-Berlins haben sich in den letzten Monaten Elterninitiativen gegründet. „Pustekuchen“ ist eine der ersten Kindertagesstätten in Selbstverwaltung, die bereits arbeitet. Bis zum Jahresende kommen sechs behinderte Kinder dazu, die bisher zu Hause betreut wurden oder weite Wege zum Sonderkindergarten zurücklegen mußten. Integrative Einrichtungen gab es in der DDR nicht, und so wird „Pustekuchen“ als Pilotprojekt vom Rat des Stadtbezirks unterstützt, erhielt vier Planstellen und die Räume einer leerstehenden Kinderkrippe in der Prenzlauer Allee.

Schon seit Wochen ist „Pustekuchen“ restlos ausgebucht, täglich kommen neue Anfragen. Staatliche Kindergartenplätze gibt es genug, und viele hätten auch einen der begehrten Kinderkrippenplätze haben können, doch das Mißtrauen der Eltern sitzt tief. „Ich will wissen und mitbestimmen, was mit meinem Kind passiert“ - Viola, die mit ihrer Tochter Karla die ersten Tage im „Pustekuchen“ verbringt, glaubt nicht an eine schnelle Wende in den Köpfen der staatlichen ErzieherInnen. Jahrelang schrieb der Erziehungsplan der Partei vor, wie pädagogisches Handeln auszusehen hätte; was hinter den Türen der Krippen und Kindergärten vorging, war „Staatssache“, Zutritt für Eltern verboten. Andrea Neumann, eine der ErzieherInnen im „Pustekuchen“, konnte das Ergebnis dann zu Hause begutachten: Tochter Antonia erzählte mit drei Jahren vom „Führer Lenin“ und brachte Pünktchen fürs Bravsein mit. Ihre Schwester Magdalene, mit einem Jahr eines der jüngsten „Pustekuchen„-Kinder, ist besser dran: Das Kolonnengehen hinter der „Tante“ im weißen Kittel bleibt ihr erspart, den gestärkten Einheitssonnenhut darf sie in die Ecke werfen. Folgt jetzt mit zwanzigjähriger Verspätung eine neue wilde Berliner Kinderladenzeit? Die ErzieherInnen antworten entschieden: „Nein - keine antiautoritäre Erziehung.“ Nicht eine politische Idee, sondern die Kinder mit ihren Bedürfnissen sollen im Mittelpunkt stehen, sie sollen aber auch in den altersgemischten Gruppen und beim Spielen mit den behinderten Kindern Toleranz und Rücksichtnahme üben.

Die erste Lernerfahrung der Eltern: Wer sein Kind nach den eigenen Vorstellungen erziehen will, muß nicht nur kochen, putzen, Räume renovieren, Spielzeug sammeln und kranke ErzieherInnen vertreten, sondern vor allem zahlen. Während die „Pustekuchen„-Eltern dank der Projektförderung mit einem Monatsbeitrag von 100 DM noch billig davonkommen, wird die Kindergruppe „Erdnuckel“ in der Belforter Straße bisher voll von den Eltern finanziert. Mit 250 DM pro Platz können gerade die nötigsten Kosten für die zehn Kinder abgedeckt werden, die beiden Erzieherinnen erhalten 400 DM. Sabine Schulz, die bereits drei Jahre in einer staatlichen Krippe gearbeitet hat, fährt zweimal wöchentlich zur Weiterbildung nach West-Berlin. „Die Eigenfinanzierug übersteigt eigentlich unsere Kräfte, und wir denken mit Schrecken an die Gewerbemiete. Doch wir wollten endlich anfangen.“ Anfang des Jahres wurde die Wohnung in Prenzlauer Berg besetzt, als den Eltern klar wurde, daß auch im neuen Staat alles, was „anders“ ist, erkämpft werden mußte. Die neuen Berliner Elterninitiativen, die jetzt einen Dachverband gründen wollen, treffen sich regelmäßig, um zu besprechen, wie ein Verein gegründet und ein Finanzplan aufgestellt wird.

Weder die KWV noch private Hausbesitzer vermieten freiwillig ihre kostbaren Quadratmeter an Kindergruppen. Ohne Räume gibt es keine Genehmigung, doch auch die gibt es erst ab September, wenn die Durchführungsbestimmungen zum „Gesetz für Kindertageseinrichtungen in freier Trägerschaft“ in Kraft treten. „Bis dahin können wir Einrichtungen, die bereits arbeiten, nicht zur Kenntnis nehmen“, erklärt Dr. Eberhard Schröter, der im Ministerium für Bildung und Wissenschaft den Bereich „Alternative Pädagogik“ leitet. Einen „enormen Handlungsbedarf“ stellt er fest. Über 40 Anträge aus Berlin und Umgebung hat er bereits auf dem Tisch. Er begrüßt das Engagement der Elterninitiativen und freut sich vor allem über die Tendenz, Kinderbetreuung gewerblich zu organisieren, „für Touristen, Theaterbesuche oder wenn die Mutti mal zum Friseur will“. Jetzt hat auch die DDR-Regierung die „Subsidiarität“ als kostensparendes Prinzip entdeckt. „Es wird darauf hinauslaufen, daß staatliche Kindergärten geschlossen werden“, Familie und freie Träger sind die Erstverantwortlichen für die Erziehung der Kleinsten, der Staat springt nur im Notfall ein.

Für dieses Jahr verteilte das Bildungsministerium vier Millionen DM aus einem Sonderfonds der Bundesregierung für alle Tageseinrichtungen der DDR in freier Trägerschaft. Die Anträge auf Finanzhilfe für 1991 müssen bis Ende September beim zuständigen Rat des Stadtbezirks vorliegen. Dann wird „im Rahmen der vorhandenen Haushaltsmittel“ bewilligt düstere Aussichten für Kinder und Eltern.

Das Westberliner Modell - eine Anschubfinanzierung und ein Platzgeld, das etwa 65 Prozent der Kosten abdeckt - wurde noch nicht übernommen. Der Senat will die „EKTs“ (Eltern -Initiativ-Kindertagesstätten) weiter ausbauen, schon jetzt gibt es fast 10.000 Plätze in selbstverwalteten Einrichtungen. „Unverantwortlich“ nennt es Hildegard Immendorf, die als Kita-Beraterin täglich die Probleme vor Ort sieht: Gewerbemieten werden erhöht, die Kündigungsrate steigt, der Elterndienst ist eigentlich unzumutbar, die Öffnungszeiten für Berufstätige zu kurz. „Ich kann nicht sagen: Macht erst mal, dann wird das Geld schon kommen. Denn mit dem derzeitigen Platzgeld geht es nicht.“ Eltern und ErzieherInnen aus Ost-Berlin, die immer häufiger die Beratungsstelle aufsuchen, rät sie „zu halten, was drüben zu halten ist“.

Kindererziehung in Selbstverwaltung klappt auch im schwindenden „Drüben“ nur, wenn die Eltern viel Zeit und Geld investieren können. Andrea Neumann von „Pustekuchen“ beschreibt den wichtigsten Wesenszug der Elternschaft so: „Wir sind wohl alle Postmaterialisten.“

Claudia Haas