Teilung. Herrschaft. Krieg

■ Die Nationalstaatsentwicklung Europas

Die erste „Demarkationslinie“ verlief im elften Jahrhundert quer durch Europa, schreibt der polnische Historiker Krysztof Pomian. Es war die Grenze, die den römisch -christlich geprägten Westen vom orthodoxen Osten des Kontinents schied. Noch heute verläuft diese kulturelle Trennlinie, von leichten Änderungen abgesehen, so wie vor tausend Jahren.

Alte Grenzen, lange Linien auch in der Zeit, markieren die Entwicklungsstränge der Geschichte Europas. In Pomians Darstellung lassen sie deutlicher als in jeder Nationalgeschichte die Kräfte erkennen, die den Kontinent gezeichnet haben. Pomian beschreibt diese Kräfte auf zwei Ebenen.

Auf der ersten Ebene geht es um den Prozeß, der die Nationalstaaten hervorbrachte. Er begann im Westen, als aus Siedlungen und Marktflecken Städte wurden. Der Handel ließ Zentren wie Genua, Florenz und Venedig blühen, Geld und Unabhängigkeit lockten. Während auf dem Land noch die Leibeigenschaft üblich war, verstanden sich die städtischen Bürgerschaften schon als Gremium von Gleichrangigen. Die Staaten mußten auf die Verselbständigung der Städte reagieren: In England und Frankreich zuerst setzte die Idee sich durch, daß „die Staaten eine Transzendenz besitzen im Verhältnis zu den körperlichen Individuen, welche sie personifizieren.“

Auf der politischen Ebene seiner Geschichte Europas hebt Pomian das hervor, was Staaten geprägt hat: die Entwicklung der Militarisierung, die langsame Verbreitung der Religionsfreiheit und die damit verbundene Abkoppelung der ehemals Mächte Kirche und Staat voneinander, die Grundrechte. Indem er die Unterschiede zwischen den entstehenden Nationen beschreibt, skizziert Pomian für jede Epoche ein europäisches Panorama. In Fragen der Toleranz etwa lagen in der frühen Neuzeit Welten und vor allem die Hölle der Inquisition zwischen den Niederlanden und Spanien. Das vergleichende Vorgehen macht zudem Antalogien sichtbar, auch wenn ein Jahrhundert zwischen den Ereignissen liegt: „Ähnliche Ursachen produzieren ähnliche Wirkung“, heißt es bilanzierend zur Verwandschaft der französischen mit der englischen Revolution.

Über den Ländervergleich hinausgehend, bezieht Pomian auf einer zweiten Ebene die Geschichte der Ideen, Kräfte und Bewegungen in seine Darstellung ein, die im Widerstreit mit der einzelstaatlichen Politik Grenzen überwanden. Doch handelt er die Geistesgeschichte nicht als Hintergrund der nationalen Entwicklungen ab. Vielmehr untersucht Pomian das, was man „das Internationale an Europa“ nennen könnte, die Spannung zwischen universalistischen und partikularistischen Tendenzen. Pomian faßt deren Wechselwirkung so ins Auge, wie es französische Historiker, etwa Fernand Brausel, vorgemacht haben: als Prozeß, in dem sichpolitische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Einzelheiten zum Gesamtbild fügen. Manchmal kommt die Politik in solchen Darstellungen zu kurz, doch Pomians Buch leidet diesen Mangel nicht.

Denn der in Paris lehrende Historiker beherrscht die Kunst der Pointierung. Er spitzt das Spannungsverhältnis zwischen Politik und Kultur auf zwei europäische „Einigungen“ zu, die bereits stattgefunden und ihre Spuren hinterlassen haben. Beide standen quer zum Prozeß der Nationenbildung. Bereits im Mittelalter schufen Kirche und Adel die erste, religiös fundierte europäische „Einheit“. Nachdem sie unter dem Ansturm der Sekten und Reformer, der Hussiten und Katharer, der Anhänger Luthers und Calvins zerbrochen war, kam eine Bewegung von Intellektuellen auf. Pomian nennt sie metaphorisch die Republique des Lettres. Machiavelli gehörte zu der gelehrten Gesellschaft, ebenso Galilei, Descartes, Leibniz. Alle arbeiteten an einem Projekt, aus dem die modernen Wissenschaften hervorgingen.

Die Republique des Lettres versank, als Napoleon versuchte, ganz Europa zu beherrschen. In den besetzten Ländern, in Spanien, Italien, Deutschland erstarkten die Bewegungen, denen es um den Schutz der eigenen gegenüber der fremden Kultur, um Abgrenzung ging: Romantiker und Nationalisten. Napoleon war schon lange tot, als die nationalen Bewegungen in Italien und Deutschland ihre Macht entfalteten und, von Politikern wie Camillo Cavour und Bismarck gesteuert, zu den Treibsätzen nationalstaatlicher Einheit wurden. Die Nation war im 19.Jahrhundert die beherrschende Idee, trotz Marx, trotz Nietzsche.

Im Westen verlief die Nationalstaatsentwicklung rascher als im Osten Europas, doch forderte sie in allen Staaten denselben Preis: die Betonung und Stärkung des Nationalismus als Bindemittel zwischen demokratischen und autoritären Kräften. Dieses Bindemittel enthielt „die Anerkennung des Kriegs als normales und legitimes Mittel zur Lösung internationaler Probleme“ und diente der systematischen „Pflege des äußeren Feindbildes“. Das Europa der Nationen war noch nicht vollendet, als es der Erste Weltkrieg in Trümmer legte.

Dieser Krieg war ein Bruch in der Entwicklung Europas, denn er leitete das „Zeitalter der Totalitarismen“ ein und teilte den Kontinent. Mit dem Beginn der Teilung beendet Pomian die Darstellung, denn seiner Meinung nach läßt sich heute noch nicht sagen, wie radikal die Teilung Europas den Prozeß der Nationalstaatsentwicklung unterbrochen hat. Allerdings sieht er Chancen für eine dritte europäische Einigung. Als Leser mag man ihm zustimmen, denn Pomians dichte Darstellung hält fest, daß neben den politischen Kräften, die Europa kreuz und quer mit Grenzen und Demarkationslinien überzogen haben, kulturelle Kräfte und Bewegungen diese Grenzen stets ignorierten. Wie beide Kräfte einander beeinflußt haben, zeigt Pomians Buch, und darin liegt seine große Stärke.

Werner van Bebber

Krzysztof Pomian: „Europa und seine Nationen“, Wagenbach, Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek, Band 18, Berlin 1990, 27 DM