Nr. 666886: abgestürzt, befreit

■ Wie eine Taube aus dem Ausland ein Abenteuer erlebte und zuletzt gerettet wurde

Die namenlose Taube mit der Nummer 66686 hockt stumm und ein bißchen flügellahm zwischen ihren Artgenossinnen. Sie ist fremd hier und hat just ein finsteres Abenteuer hinter sich: Zwölf Meter freien Fall in einem Lüftungsschacht bei anschließend dreitägiger Gefangenschaft im stockdunklen, engen Loch.

Daß sie gefunden wurde, ist ihr Glück und eher zufällig. Der Bremer Gerrit Guit dachte nämlich zunächst an Ratten, als nächtliche Schabegeräusche in seiner Zimmerwand ihn um die Feierabend

ruhe brachten. Als auf seine listig ausgelegten Käsehäppchen aber niemand ansprang, wurde er unruhig und begann, systematisch sein ganzes Kellergeschoß nach dem unsichtbaren Krachmacher abzusuchen. Im Gästeklo schließlich, unterm Wachbecken hinter einer unverputzten Luke aus Beton, wurde Guit am dritten Tage fündig: „Taube von rückwärts“ im Lüftungsschacht, das war des Rätsels Lösung.

„Sie rührte sich nicht und muß halb verhungert gewesen sein, aber immerhin, sie lebte noch“, erklärte er. Als die Taube das angebotene Wasser verschmähte und auch sonst kümmerlich piepsend allmählich zugrunde zu gehen drohte, transportierte Gerrit Guit sein Findelkind kurzerhand zum Nachbarn, dem Taubenzüchter Karl-Heinz Lürßen.

Für Lürßen war die Taube 66686 bereits eine alte Bekannte, weil auch er schon mehrfach versucht hatte, sie vor die Tür zu set

zen. „Die Dame ist nämlich Ausländerin“, sagt er, ein blaßroter Stempel im grauen Gefieder weist sie als gebürtig in Sussex, Südengland, aus. Vor sechs Wochen hatte sie zum ersten Mal den Taubenschlag von Karl-Heinz Lürßen angeflogen, bei einem Preisfliegen in ihrer Heimat müsse sie wohl die Orientierung verloren haben. Daß sie über den Kanal abgedriftet ist, sei nicht weiter verwunderlich. Schließlich machen Tauben bei gutem Wind an die 120 Stundenkilometer. Seitdem ist das Tier nicht wieder loszuwerden. Schon dreimal hochgepäppelt und auf Heimreise geschickt, kehrte sie immer wieder zu Lürßen und seinen 60 Zuchttauben zurück, - oder stolperte eben entkräftet in anderer Leute Lüftungsschächte. Das weitere Schicksal der asylsuchenden Taube ist noch ungewiß'ihr Gastgeber fahndet zur Zeit nach ihrem Bestitzer in Sussex. Sollte es ihm gelingen, den englischen Tauben

züchter aufzustöbern, hat unser Täubchen wohl mit Abschiebung zu rechnen, solange aber bleibt sie.

Susanna Moßmann