Berlin, der Tod und die Bäume

■ Der Baum(be)-Stand der Dinge: In der Baummetropole Berlin verreckt permanent das "Straßenbegleitgrün". Am Ende des 20. Jahrhunderts überlebt erstmals der Mensch den Baum. In Berlin beginnt der Herbst im Juli

Berlin beginnt der Herbst im Juli ...

VON SIGRID BELLACK

Berlin/Potsdam. Während die Berliner wie bekloppt Autos kaufen und ihre Politiker Autobahnen um die Innenstadt phantasieren, dämmern die Lenneschen Gartendenkmäler Großer Tiergarten und Schloßpark Sanssouci leise ihrem Ende ent gegen.

Als Symbol des Neubeginns waren die Linden in der Hofjägerallee im Großen Tiergarten nach dem Krieg gepflanzt worden. 40 Jahre später sind nicht wenige der Symbole dahin, verreckt an den Abgasen der sich durch die Hofjägerallee wälzenden Autokarawanen. Ihre Nachfolger, erst im letzten Jahr für teures Geld gepflanzt, zeigen bereits jetzt, im Juli/ August, Symptome des Herbstes: gelbe Blätter und vorzeitigen Blattabfall. Sie werden aller Voraussicht nach nicht einmal die nächsten fünf Jahre überleben. Doch nicht nur die Linden gehen ein; ein großflächiges Absterben des gesamten Tiergartens befürchtet die Berliner Baumschutzgemeinschaft. Überall, besonders deutlich in den straßennahen Bereichen, recken Eichen, Buchen und Eiben ihre kahlen Wipfel in die Luft. Der Herbst, nach dem Kalender für Oktober und November vorgesehen, beginnt seit Jahren für Berlins Bäume um fast drei Monate zu früh.

Ein anderes Gartendenkmal von europäischer Bedeutung, der Schloßpark Sanssouci, ist nach den Beobachtungen der Baumschützer ähnlich gefährdet wie der Große Tiergarten. Während man für die Restaurierung der von der Luft angefressenen und zerstörten Gebäude in aller Welt nach Steinmetzen suche, lasse man offensichtlich Laien an die Baumdenkmäler. Die Große Allee zum Neuen Palais sei durch falsche Schnitte völlig verstümmelt. Wenn dort die Emissionen nicht verringert würden, so der Biologe Dr. Wolfgang Endler, „bleibt von dem Park nichts übrig“.

„Straßenbegleitgrün“

Berlin gilt als die grünste Metropole der Welt. Allein 250.000 Bäume in West-Berlin und 145.000 in Ost-Berlin säumen ihre Straßen. Eine wenige Jahre alte Broschüre der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz behauptet noch, daß „man jeden zweiten der Stadtbäume als gesund bezeichnen kann“. (Andersrum klingt es schauerlich: Mehr oder weniger als die Hälfte sind krank oder schon tot! d. säzzer) Unterstellt, es sei so (es gibt keine Zählungen), ist dies nur eine relative Aussage. Der Gartenbauamtsleiter von Tiergarten, Dr. Albrecht, findet es zum Beispiel „einen geringen Anteil“, wenn er jährlich drei Prozent seiner Straßenbäume fällen läßt, was nichts anderes heißt, als daß er innerhalb von drei Jahrzehnten seinen gesamten Baumbestand ausgewechselt haben wird. Die Bäume werden immer jünger und leben immer kürzer. Den Garaus machen ihnen Tausalzschäden (allein 40.000 Bäume), undichte Gasleitungen, Hundeurin, Autounfälle und in erster Linie die Abgase der Autos. Es ist nicht etwas die Ausnahme, sondern eher die Regel, daß 20- bis 30jährige Bäume gefällt werden müssen und durch junge ersetzt werden. „Normal“ ist für einen Baum je nach Gattung ein Alter zwischen 100 und 1.000 Jahren. Das „ständige Auswechseln von Jungbäumen als Ausdruck der Wegwerfgesellschaft“ wird nach Ansicht der Berliner Baumschutzgemeinschaft dazu führen, daß der Altbaumbestand schon bald aus der Stadt verschwunden sein wird. Um die Funktion einer 100jährigen Buche mit einer Höhe von 25 Metern und einer Kronenbreite von 14 Metern zu erfüllen, müßten 2.700 (!) junge Buchen gepflanzt werden, so die Berechnungen des Frankfurter Baumfachmanns Alois Bernatzky.

Der Wald

Während in den Berliner Wäldern 1983 noch 92 Prozent aller Eichen ohne Schadensmerkmale waren, waren es 1989 nur noch knapp 50 Prozent. Ähnliche Entwicklungen bei der Kiefer; allerdings waren hier 1989 bereits 90 Prozent der Bäume geschädigt. Die offizielle DDR-Statistik weist für das gesamte DDR-Waldgebiet eine durchschnittliche Schädigung aller Baumarten von 60 bis 80 Prozent aus. Die von Umweltbundesamt und Senatsumweltverwaltung finanzierte Studie Ballungsraumnahe Waldökosysteme fordert dringend eine Senkung der Schadstoffeinträge durch Stäube und Abgase, denn „die Immissionsbelastung der Berliner Forsten ist als sehr kritisch zu bewerten“.

Was tun?

Eine von den Grünen in Auftrag gegebene Studie über die wirtschaftliche Entwicklung der DDR unter Umweltgesichtspunkten kommt zu dem Schluß, daß zwar die Belastungen mit Schwefeldioxid zurückgehen werden, wenn die DDR einen Teil ihrer Industrieanlagen schließen wird. Die erwartete Zunahme von Kraftfahrzeugen wird jedoch den Ausstoß von Stickoxiden und die damit verbundene Ozonbelastung enorm erhöhen. Selbst die EG-Umweltkommission kommt zu dem Schluß, daß die „Autos die schlimmsten Umweltverschmutzer“ sind.

Die Berliner Baumschutzgemeinschaft fordert deshalb eine Beibehaltung der Tempo-100-Vorschrift in der DDR; für den Berliner Stadtraum gar ein Fahrverbot mindestens für die sogenannten Sommersmogtage.