UdSSR: Schwere Zeiten für die Atomenergie

■ Die Regierung hält an der Atomenergie fest / Wir lassen einen Vertreter dieser Linie zu Wort kommen

EUROFACETTEN

Das Tschernobyl-Syndrom hat eine Krise des gesellschaftlichen Vertrauens zur sowjetischen Atomenergie ausgelöst und diese Branche praktisch in eine Stagnation hineinmanövriert. Im Lande stehen 15 AKWs mit 47 Reaktorblöcken und einer Gesamtleistung von 37.750 Megawatt, die 12,5 Prozent des Stromaufkommens erzeugen. Die weitere Aufstockung der AKW-Kapazitäten wurde allerdings vereitelt. Auf Forderung der Öffentlichkeit und der örtlichen Behörden ist die Errichtung von Reaktorblöcken mit einer Gesamtleistung von mehr als 109.000 Megawatt eingefroren worden.

Die Situation ist nicht nur auf den Tschernobyl-Gau zurückzuführen. Die Atomenergie steht jetzt im Brennpunkt politischer Ereignisse und stürmischer Kundgebungen. Sie wird häufig „kreuz und quer“ kritisiert. Es wird gefordert, auf Atomkraftwerke überhaupt zu verzichten. Ich glaube allerdings, daß in dem Maße, in dem die Republiken eine echte Souveränität und ökonomische Unabhängigkeit erlangen, sie sich auch ausgewogen und bedachtsam die Entwicklung der Energiewirtschaft und den Anteil des Atomstroms überlegen werden.

Die Akademie der Wissenschaften der UdSSR hat eine Spezialkommission beauftragt, alternative Optionen zur Entwicklung der sowjetischen Energiewirtschaft zu erstellen und dem Obersten Sowjet der UdSSR vorzulegen. Die Kommission hat drei Möglichkeiten favorisiert, die sich voneinander nur nach quantitativen Parametern im Rahmen ein- und derselben Energiepolitik unterscheiden. In jedem Fall wird Atomkraftwerken eine große Bedeutung zugemessen. Die Kapazität der Atomkraftwerke soll langsam, aber systematisch ausgeweitet werden: auf 60.000 bis 65.000 Megawatt bis zum Jahr 2000 und auf 70.000 bis 100.000 Megawatt bis zum Jahr 2010.

„Entweder werden wir die Kernenergetik weiterentwickeln oder noch stärker verarmen“, sagt Andrej Troizki, stellvertretender Vorsitzender des staatlichen Plankomitees der UdSSR. Und: „Das muß man der Bevölkerung ehrlich und verständlich erläutern.“ Die Befürworter der Atomenergie in der Sowjetunion sind überzeugt, daß in der sowjetischen Erdölindustrie eher mit Stagnation als mit wachsenden Förderraten zu rechnen ist. In der Erdgasindustrie verhalte es sich günstiger, aber auch dort werde sich das Aufkommen Anfang des 3.Jahrtausends auf einem konstanten Niveau einpendeln. In den östlichen Landesteilen lagern zwar beeindruckende Kohlevorräte, ihre Förderung und Nutzung ist jedoch nach Meinung der AKW-Freunde in der UdSSR ökonomisch und ökologisch problematisch. Auch alternative Energiequellen seien nicht in der Lage, die Energieversorgung wirtschaftlich vernünftig sicherzustellen. Überhaupt könnten sie nur mit maximal drei Prozent zur gesamten Stromerzeugung beitragen. Die technische Energieeinsparung (in Regierungsprogrammen sind über 5.000 Einsparmaßnahmen vorgesehen. Dafür wird jedoch Zeit benötigt - und viel Geld) und Umstrukturierung der Wirtschaft könnten den Bedarf an zusätzlichen Brennstoff- und Energieressourcen nur begrenzt absenken, glauben die Befürworter der Atomenergie. Der Strommangel sei schon jetzt in einigen Landesteilen spürbar, in denen die Atomkraftwerke stillgelegt oder ihre Errichtung eingestellt wurden.

Ein anderes Problem ist der Umweltschutz. Jeder weiß, daß wir vom Treibhauseffekt und globalen Klimaveränderungen bedroht sind, aber das Tschernobyl-Syndrom wirkt bisweilen noch stärker. Viele leben auf unserem Planeten bereits heute in ökologischen Krisenregionen, in denen alle zulässigen Grenzwerte der Luft- und Umweltverschmutzung überschritten sind. Das Forschungszentrum des Ministeriums für Gesundheitswesens der Ukraine meldet, daß die mutagene Gefahr durch die chemische Verschmutzung heute in Mariupol mit den Bestrahlungsfolgen (180 rem in 30 Jahren) durch den Unfall von Tschernobyl identisch sei. Der Schaden, der in der UdSSR den Menschen und der Umwelt durch Emissionen aus Wärmekraftwerken und Feuerungsanlagen zugefügt wird, übertrifft um ein Vielfaches den Schaden des Tschernobyl -Gaus. Soll die Menschheit auf einen anderen Planeten umsiedeln?

Die Sowjetunion kooperiert heute mit allen Staaten, die eine moderne Atomtechnologie besitzen. Beim Besuch des Bundeskanzlers Helmut Kohl im Oktober 1988 in der UdSSR wurde zum Beispiel ein Generalabkommen über die gemeinsame Entwicklung neuartiger, gasgekühlter Hochtemperaturreaktoren und die Errichtung eines großtechnischen Atomkraftwerks mit einem solchen Reaktor in der Sowjetunion unterzeichnet. An dieser Arbeit beteiligt sich ein Konsortium, in dem sich Asea Brown Boveri AG und Siemens zusammengefunden haben. Im Programm sind auch Arbeitsfelder wie Schnelle Brutreaktoren, Leichtwasserreaktoren, die Behandlung und Endlagerung radioaktiver Abfälle, Kernfusion, Plasmaphysik usw.

Alle diese Arbeitsfelder stehen im Zusammenhang mit einer höheren Sicherheit der Atomkraftwerke. Nur so kann die Atomwirtschaft das Vertrauen der Bevölkerung wiedergewinnen. Zu diesem Zweck wird in der UdSSR auch ein Gesetz über die Atomenergie und nukleare Sicherheit erarbeitet.

Juri Kanin

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Nachrichtenagentur 'Nowosti‘