Rote Grütze mit Liebe für Tschernobyl-Kinder

■ Zwanzig junge Gäste aus dem weißrussischen Bezirk Gomel machen im Harz Ferien auf dem Bauernhof

Von Reimar Paul

Bad Gandersheim (taz) - Ein buntes Transparent in kyrillischer Schrift weist den Weg. „Herzlich Willkommen“ steht am Scheunentor des Bauernhofes im südniedersächsischen Dörfchen Bentierode, auf dem 20 Mädchen und Jungen aus Weißrußland seit Ende Juli Ferien machen.

Die Kinder kommen aus Kurma, einer Kleinstadt im Bezirk Gomel, der von den Auswirkungen der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl besonders betroffen ist. Mit Radioaktivitätswerten von mehreren hunderttausend Bequerel pro Quadratmeter sind weite Teile dieser Region noch immer stark verstrahlt. Zum Vergleich: Im Süden der Bundesrepublik betrug der Tschernobyl-Fallout maximal 40.000 Bequerel.

Ende Mai hatten die evangelische Jugend in Bad Gandersheim und eine örtliche Friedensinitiative Einladungen zu einem dreiwöchigen Erholungsurlaub verschickt. Über schon bestehende Bekanntschaften in Minsk wurden Kontakte zum Bürgerkomitee „Kinder von Tschernobyl“ geknüpft, das seit Jahren vor Ort die dichte Informationssperre der sowjetischen Behörden zu durchbrechen versucht. Das Komitee wählte zwölf Mädchen und acht Jungen aus sozial schwachen Verhältnissen für die Reise in den Harz aus.

Die Lehrerin Swetlana Margolina, die als Dolmetscherin mitgekommen ist, beschreibt den Alltag der Jugendlichen in Kurma. Wegen der anhaltenden Strahlung dürfen sie ihre Häuser nicht verlassen. Ein Bus holt die Jugendlichen morgens ab, fährt sie zur Schule und bringt sie abends wieder zurück. Die Kinder dürfen „nicht in den Wald gehen, keine Pilze sammeln, keine Milch trinken, keine Fische fangen und nicht im Fluß baden“. Erwachsene, sagt Frau Margolina, könnten solche Situationen „vielleicht für eine gewisse Zeit ertragen“. Kinder können es nicht.

Das bestätigt auch der 13jährige Boris, der in einem der fünf auf einer Wiese aufgestellten Zelte döst: „Ja, wir gehen oft nach draußen und spielen im Wald.“ Die Spiele heißen „Radioaktivität“ oder „Havarie“.

Die Küche des Bauernhauses ist Speisesaal, Versammlungsraum und Hauptquartier der Gruppe. An den Schränken und Türen hängen Wandzeitungen, die über Veranstaltungstermine, Abwaschdienste und Essenszeiten informieren. Ein festes Programm war eigentlich nicht vorgesehen. Doch inzwischen werden die Kinder mit Einladungen von Vereinen, Kirchengemeinden und Privatpersonen überschüttet, und die freie Zeit wird knapp. So organisierte das Technische Hilfswerk eine Bootsfahrt auf der Weser, die Gandersheimer Feuerwehr präsentierte ihre Drehleitern, und ein im Rußlandfeldzug der Wehrmacht erblindeter Exsoldat lud die Kinder zu einem Stadtbummel nach Hildesheim ein.

Auch die Reaktionen der Bentieroder Nachbarn sind „überwältigend“. Kostenlos und in beliebigen Mengen können Milch und Brötchen abgeholt werden, ebenso Obst und Gemüse. Frauen aus dem Dorf bringen jeden Vormittag Berge von Schinken, Käse, Quarkspeise und Rote Grütze vorbei Lebensmittel, die für die Kinder in ihrer Heimat tabu sind. Nach Auskunft der Kinderärztin und zweiten Reisebegleiterin Ludmilla Sosnowskaja sind fast alle Frischprodukte in Weißrußland und der Ukraine „extrem verseucht“ und müssen nach der Ernte vernichtet werden. Viele Menschen in der Region litten nicht nur an Immunschwäche und anderen Strahlenkrankheiten, sondern auch unter akutem Vitamin -Mangel. Die Ärztin, die auch in dem „Kinder von Tschernobyl„-Komitee mitarbeitet, schimpft heftig über die „Unfähigkeit der Behörden“, die Versorgung der Bevölkerung mit gesunder Nahrung und medizinischem Personal sicherzustellen. Ludmilla Sosnowskaja muß allein mehr als 5.000 Kinder betreuen. Alle anderen Kinderärzte aus Kurma, sagt sie, hätten in den vergangenen Jahren „das Weite gesucht“.

„Dankbar angenommen“ hat Frau Sosnowskaja das Angebot des Evangelischen Krankenhauses in Bad Gandersheim, das die Kinder kostenlos untersuchen will. Die Ergebnisse der Blut und Urintests sowie einer Ultraschall-Diagnose der Schilddrüsen sollen am kommenden Wochenende bekanntgegeben werden.

Die Gesamtkosten des Ferienaufenthalts einschließlich eines Taschengeldes für die Kinder belaufen sich auf rund 30.000 Mark. Ein großer Teil dieser Mittel ist bereits aufgebracht worden. Eine „Welle der Hilfsbereitschaft“ habe den Ort nach Bekanntwerden der Idee „überspült“, erzählt der Gandersheimer Probstei-Jugendwart Bernd Cremer. Eine Hochzeitsgesellschaft sammelte spontan unter ihren Gästen, die Frauenhilfe der Probstei zweigte 2.000 DM von einem Festerlös ab, die Theateraufführung einer Schulklasse erbrachte weitere 1.800 Mark, und auch der Ökofonds der niedersächsischen Grünen machte Gelder locker.

Die Frage, ob das Geld in der Heimat der Jugendlichen nicht sinnvoller investiert wäre, hat sich auch Wolf Jung gestellt. Natürlich sei es problematisch, „wenn die Kinder nach drei Wochen frischer Luft und Bewegungsfreiheit wieder hinter verschlossenen Türen leben müssen. Aber vielleicht werden einige von ihnen durch ihre Erfahrungen angeregt, die Auseinandersetzung über ihre Zukunft auch vor Ort zu führen.“