„Ungefährliche“ Pestizide

■ Pestizidhersteller nörgeln - Bundesbürger sind die „gesündesten und wohlhabendsten Hypochonder aller Zeiten“

Hamburg (taz) - „Wenn den Leuten das schöne Wetter wichtiger ist, kann es mit der angeblichen Vergiftung ja so schlimm nicht sein.“ Mit diesen Worten betrat Helmut Frehse, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Komitees beim derzeit in Hamburg stattfindenden „Internationalen Kongreß für Pflanzenschutz-Chemie“, den spärlich besetzten Saal. Titel der mit Vertretern der Industrie und Chemie schwer belasteten Veranstaltung: „Mit Pflanzenschutz gesunde Nahrung?“ So ging es denn auch im Stil dieser „Eingangsaussage“ weiter.

„Ich kenne viele Leute, die an Salmonellen oder verdorbenen Lebensmitteln erkrankt sind. Aber von jemandem, den die Rückstände von Pflanzenschutzmitteln umgehauen haben, habe ich noch nie was gehört.“ Diese Alltagsbeobachtung hielt Siegbert Gorbach, pensionierter Chemie-Manager und Vorsitzender des Organisationskomitees, dem Vertreter der Hamburger Verbraucherzentrale auf dem Podium als Beweis dafür vor, daß die Verbraucherzentrale sich nicht für die Interessen der Verbraucher einsetze, wenn sie gegen Pestizide zu Felde zieht. Da konnte der Bericht von Peter Weigert vom Bundesgesundheitsamt (BGA) die versammelten ChemikerInnen aus den Forschungslabors von Industrie und Universitäten nicht beeindrucken.

Weigert stellte Zwischenergebnisse eines Pilotprojektes vor, bei dem seit Oktober 1988 erstmals repräsentativ in allen Bundesländern Obst und Gemüse auf Pestizidrückstände untersucht werden. Während bei Kartoffeln so gut wie keine Überschreitungen der gesetzlich erlaubten Höchstmengen gefunden wurden, sind vor allem Kopfsalat, Erdbeeren und Äpfel häufig Giftbomben. Bei Erdbeeren wurden die erlaubten Höchstmengen in über sechs Prozent der genommenen Proben überschritten, bei Kopfsalat und Äpfeln lag dieser Anteil bei 5,8 beziehungsweise 3,5 Prozent.

Zu berücksichtigen ist dabei, daß diese Höchstmengen aus zweierlei Gründen umstritten sind. Zum einen liegen sie wesentlich höher als beim Trinkwasser, zum anderen existiert bei Lebensmitteln kein Summenwert. Letzteres bedeutet, daß auf einem einzigen Apfel mehrere Pestizide gefunden werden können (das BGA fand bis zu sieben), ohne daß es zu einer Überschreitung der Höchstmenge kommt, weil für jeden Einzelstoff die gesetzlichen Vorschriften eingehalten werden.

Für den Industrieverband Agrar (IVA), in dem die Hersteller von Pestiziden zusammengeschlossen sind, sind jedoch nicht die erlaubten Höchstmengen in den Lebensmitteln strittig, sondern die Grenzwerte für Trinkwasser. Geradezu für Empörung sorgt beim IVA das geplante Verbot von Atrazin. Dieses Herbizid ist für 90 Prozent aller Grenzwertüberschreitungen im Trinkwasser verantwortlich. IVA -Geschäftsführer Georg Leber kündigte an: „Wenn Atrazin aus übertriebenen Vorsorgegedanken verboten werden sollte, kann ich nicht mehr dafür garantieren, daß wir uns noch an den bisher befolgten Grundsatz halten, in der Bundesrepublik verbotene Mittel weder zu exportieren noch im Ausland herstellen zu lassen.“

Noch zu Beginn des Kongresses hatte Fritz Führ vom Forschungszentrum Jülich das Atrazin als „hervorragendenden Tracer“ gelobt. Erst durch das so heftig kritisierte Herbizid wisse man heute, wie groß die Einzugsgebiete der Trinkwasserbrunnen eigentlich seien.

Bitter für die Pestizidhersteller, daß sie sich mit den „gesündesten und wohlhabendsten Hypochondern aller Zeiten“, so der Freiburger Biologe Hans Mohr in seinem Festvortrag zur Eröffnung des Kongresses, herumschlagen müssen. Zumal selbst bei der Linken der „traditionelle Fortschrittsglaube durch den Wohlstand verloren gegangen“ sei, wie Mohr und mit ihm der IVA bedauerte.

Kai Fabig