„Für ganz normale Ohren ein Horrorleben“

■ Diagnose Aids - das heißt immer wieder krank werden: Bronchitiden, Lungenentzündungen, Pilzinfektionen, Magen- Darm-Infektionen ... Mehrere hundert infizierte Menschen leiden in Berlin nicht nur daran - sondern auch an Obdachlosigkeit.

Serie

Ein Alptraum.

VON HANS-HERMANN KOTTE

Sie wohnen jahrelang in engen Pensionen, müssen bei Freunden unterkriechen, leben in leerstehenden Abrißwohnungen, müssen mit ungeheizten Zimmern und Außenklo zurechtkommen: obdachlose Aids-Kranke und HIV-Positive, die nach Krankenhausaufenthalten, Therapien oder Knast kein Dach mehr über dem Kopf haben. Mit Sozialhilfe oder Rente haben sie auf dem freien Wohnungsmarkt keine Chance, und auch der Wohnberechtigungsschein mit Dringlichkeit bringt nichts mehr. Mehrere hundert sind es in Berlin, allein beim Kreuzberger Aids-Wohnprojekt „Zuhause im Kiez“ (ZiK) stehen 123 Leute auf der Warteliste, zur einen Hälfte Ex -Drogengebraucher und Substituierte, zur anderen meist Schwule. Täglich fragen drei oder vier neue Wohnungssuchende bei ZiK an. Bislang wurden - von November 1989 bis Juli 1990 - 38 Wohnungssuchende vermittelt. Dem Projekt, das nicht nur Wohnungen bei Vermietern und Wohnungsgesellschaften sucht, sondern sie auch renoviert und die BewohnerInnen sozialpsychologisch betreut, fehlen jedoch dringend Senatsmittel. Vorerst kann nur mit den Geldern der Trägervereine von ZiK gewirtschaftet werden: Berliner Aids -Hilfe, HIV e.V., Sozialstationen und Drogenberatungsstellen.

Die taz sprach mit drei Männern und einer Frau (die Namen wurden von der Redaktion geändert), die unter der Obdachlosigkeit und Aids leiden und auf der ZiK-Warteliste stehen. Ein Mann hat inzwischen über ZiK eine Wohnung bekommen.

Susanne (22) weiß seit zwei Jahren, daß sie positiv ist. Sie wohnt momentan zur Untermiete in einer 40-Quadratmeter -Wohnung. Als sie 18 war, hat sie kurze Zeit Heroin genommen. Danach alles, was sie kriegen konnte. Jetzt ist sie clean.

taz: Wie kommen Sie mit der Wohnung zurecht?

Susanne: Das ist nur ein Minizimmer, viel zu klein, das geht eigentlich nur vorübergehend. Außerdem ist da auch ein Pilz im Boden, was gefährlich für mich ist.

Wie sind Sie obdachlos geworden?

Ich war im Ausland gewesen und hatte dann nichts, als ich zurückkam. Da habe ich erst mal nur bei Freunden wohnen können, mal hier, mal dort. Zur Untermiete wohne ich seit April, bis zum Winter muß ich unbedingt eine Wohnung haben. Die Suche über die Zeitung habe ich längst aufgegeben, das Geld für Maklergebühren, Abstand und Kaution kann ich einfach nicht zahlen. Eine Freundin von mir mußte zweitausend Mark unter der Hand zahlen, um was zu kriegen.

Was haben Sie bislang beruflich gemacht?

Im Moment mache ich nichts. Ich habe mich für ein Arbeitsprojekt beworben. Ich will jetzt wieder was tun, und deshalb ist es wichtig, daß ich eine Wohnung habe, wo ich mich mal zurückziehen kann und meine Ruhe habe. Wo ich Kraft tanken kann. Jetzt geht das nicht, in der Wohnung ist ein ständiges Kommen und Gehen. Auch brauche ich eine richtige Küche, damit ich mich mal gesund ernähren kann. In der jetzigen Wohnung gibt es keinen Gasherd, nur zwei kleine Kochplatten.

Björn (23) erfuhr als 18jähriger, daß er positiv ist. Er sucht schon anderthalb Jahre lang eine Wohnung, in der ein Leben mit der Krankheit möglich ist. Seine jetzige Wohnung liegt im fünften Stock. Sie hat nur Kohleheizung, das Brikettsschleppen ist für Björn eine Qual.

taz: Wie wohnen Sie jetzt?

Björn: Die Wohnung hat nur 35 Quadratmeter, da kann man nicht viel drin machen. Im Winter ist die Wohnung kalt; warme Luft bis auf Kopfhöhe, und der ganze Unterkörper friert. Wenn du liegst, klapperst du auch nur noch mit den Zähnen. Horror. Und im Sommer ist es brütend heiß unterm Dach. Das geht eigentlich nicht mit der Bronchitis, die ich seit drei Jahren habe. Da kann ich nicht mehr bleiben.

Gibt es wenigstens ein Bad?

Das schon, aber die Wohnung liegt einfach zu hoch für mich. Ein Jungscher kann das ja packen, aber ich mit meiner Lunge nicht. Fünf Stockwerke, dann sitze ich nur noch zitternd im Sessel. Auch wenn ich einkaufen gehe, ist das unheimlich anstrengend. Das summiert sich.

Wie sind Sie obdachlos geworden?

Ich war längere Zeit in den USA und hatte alles hier aufgegeben - ich hatte vorher nur zur Untermiete gewohnt. Als ich dann wiederkam, weil ich die Behandlungskosten dort nicht bezahlen konnte, kriegte ich per Zufall diese Wohnung. Ich suche jetzt schon so lange, aber auch mit Wohnberechtigungsschein kriegt man nichts. Ich habe auch Wohnungstausch versucht, aber wer nimmt schon so eine kleine stickige Wohnung?

Was machen Sie zur Zeit beruflich?

Ich arbeite nicht richtig, ich jobbe ein bißchen nebenbei, wegen des Geldes. Ich habe Florist gelernt, aber ich bin ja schon so lange positiv, und das belastet ganz schön. Zwischendrin immer wieder krank, Bronchitis und Lungenentzündung, und Gürtelrose hatte ich auch schon. Das wird von Jahr zu Jahr immer schlimmer. Vor dem Herbst und Winter habe ich richtig Angst. Ein Wetterumschwung, und schon hat man schlagartig eine Lungenentzündung. Im Herbst sterben auch immer so viele.

Wie müßte die neue Wohnung aussehen?

Schön wäre eine Zweizimmerwohnung. Wer weiß, was ist, wenn ich mal eine Pflegeperson brauche. Das wäre schon besser, Platz muß dann sein. Zentralheizung und Fahrstuhl wären auch gut. Oder was im Erdgeschoß.

Martin (32) weiß seit vier Jahren, daß er positiv ist, und war bereits erkrankt. Er ist

Polamidon-Substituier- ter. Durch ZiK ist ihm eine Wohnung vermittelt worden.

taz: Wie sah Ihre Lebenssituation aus, bevor Sie die Wohnung bekommen haben? Wie lange waren Sie obdachlos?

Martin: Ich komme eigentlich aus Westdeutschland und habe bis November letzten Jahres hier in Berlin eine Drogen -Langzeittherapie gemacht. Danach hätte ich auf der Straße gestanden. Ich habe aber über Freunde eine Leerstandswohnung bekommen. Die war allerdings nicht zu heizen, die Fenster waren kaputt, keine Waschgelegenheit, nichts. Ich bin da eingezogen mit einem Schlafsack und hätte bleiben können bis zum Beginn der Sanierung. Die hab‘ ich dann halt erst mal bewohnbar gemacht. Zu dem Zeitpunkt aber hatte ich schon Kontakt zu ZiK. Ich war 14 Tage lang in dem kalten, ungeheizten Ding drin und habe dann von einem auf den anderen Tag eine Wohnung bekommen. Ich war heilfroh, als ich da rauskam. Ich hatte vorher Lungenentzündung gehabt und hatte Angst, daß ich mir da wieder was hole.

Hatten Sie es vorher über die Behörden versucht?

Ich hab‘ alles unternommen, was zu unternehmen war. Über Makler, Gesellschaften, die Ämter. Aber da war nichts zu machen. Immer nur mit dem Kopf gegen die Wand. Ich hatte schon überlegt, wieder zurück nach Westdeutschland zu gehen und bei Freunden unterzukriechen.

Und wie klappt es jetzt mit der Wohnung?

Ich wohne da anonym, wie jeder andere Mensch auch. 340 Mark Miete für zwei kleine Zimmer. Ich hätte auch keine Lust, in so einem Ghettohaus zu wohnen, wo jeder weiß, da leben Leute mit Aids.

Nehmen Sie noch andere Angebote von ZiK wahr, Betreuung oder Beratung?

Betreuung nicht, aber es gibt ein Mieterplenum, wo sich die MieterInnen treffen. Es sind zwar nicht immer alle da, aber es interessiert mich, was so passiert mit dem Projekt. Ansonsten kann ich mir noch recht gut selber helfen. Ich bin aber froh, daß es die Möglichkeit gibt, mich bei ZiK zu melden, wenn es mir wieder schlechter geht.

Heinrich (36) weiß seit fünf Jahren, daß er positiv ist. Früher war er kaufmännisch tätig, jetzt ist er als arbeitsunfähig eingestuft. Heinrich ist Polamidon -Substituierter.

taz: Wo leben Sie zur Zeit?

Heinrich: Ich wohne seit zwei Jahren in einer Pension, was sehr unangenehm ist. Nicht die geringste Rückzugsmöglichkeit, man kann eigentlich nur zum Schlafen dort sein, und damit hat es sich dann. Jeden Monat kostet das zwölfhundert Mark.

Wie sind Sie in diese Situation gekommen?

Ich bin Berliner, hatte eine Langzeittherapie für Drogenabhängige in Westdeutschland gemacht und bin dann zurückgekommen. Seitdem bin ich zum ersten Mal obdachlos.

Wie sind die Verhältnisse in der Pension?

Wenn man von der relativen Sauberkeit absieht, ist das auf lange Sicht bedrückend. Erst lange Zeit im Mehrbettzimmer, jetzt im Zweibettzimmer, da kann sich jeder vorstellen, wie beengt das ist. Bett, Tisch in der Mitte, Stühle. Kein Abstand, das Private fehlt mir völlig. Du kommst, und immer ist schon einer da. Das ist nicht gerade aufbauend. Nicht mal zum Lesen kann ich mich konzentrieren. Die Leute dort sind ja keine Freunde, die sind wild zusammengewürfelt, Alkoholiker, Leute aus der Psychiatrie, Leute, die allein nicht mehr klarkommen.

Wie wäre das, wenn Sie dort krank würden?

Das darf ich mir gar nicht vorstellen. Ich habe unheimliche Ängste, wenn ich nur daran denke. Da darf ja keiner wissen, was Sache ist. Sonst müßte ich Spießruten laufen. Was wirklich im Ernstfall wäre? Ich weiß es nicht. Das verdränge ich. Freitag war es fast soweit wegen der Hitze, aber mit ein paar Stunden Ruhe und mehreren Tassen Kaffee hab‘ ich es gerade noch mal hingekriegt.

Wie ist es mit dem Essen?

Das geht gerade so. Ich kriege ja ein bißchen mehr Geld für Obst. Aber mir dort selbst was zu kochen ist kaum möglich.

Wie kommen Sie mit dieser Isolation klar?

Ich hab‘ noch ein paar Freunde und Bekannte in der Stadt, die fangen das gerade noch auf. Besuche in der Pension zu empfangen geht nicht. Hunde und Besuch verboten. Besucher bitte unten warten. Offiziell soll es „besenrein“ sein, wie das in Deutschland sein muß. Aber was hinter den Türen vorgeht, das ist nicht vorzeigbar.

Die Situation ist doch gar nicht länger zu ertragen.

Wirklich nicht. Ich krieg‘ das eigentlich nur wegen meiner Erfahrungen auf die Reihe, ich war mal im Knast. Auch nach außen hin ist das schwer zu ertragen. Zuerst mochte ich niemandem sagen, wo ich wohne. Für normale Ohren ist das doch ein Horrorleben. Aber jetzt habe ich gerade eine ganz vernünftige Phase. Gesundheitlich geht es einigermaßen, selbst bei der Hitze. Und seit ich auf der Warteliste stehe, bin ich auch mit der Wohnung ganz optimistisch.