Körperkrieg

 ■ Ein Roman über die Pest

Von Gerhard Mack

Was Theorien taugen, spüren am Besten die Körper. Ärzten ist der Zusammenhang vertraut: wo Kranke nicht gesunden, geraten Weltbilder in Gefahr. In unsere Welt des Schneller-höher -weiter passen Krankheit und Zerfall besonders schlecht. Der individuelle Tod ist der Todfeind des Optimismus naturwissenschaftlicher Machbarkeit. Kein Wunder also, daß Aids zum Schreckgespenst wird, das sich aus den Ängsten nährt, die vergangene Epidemien in den Körpern sedimentiert haben, kein Wunder auch, daß die „Lustseuche“ zum Nachdenken über Lebenswerte unserer Zeit Anlaß gibt. Das Nach- und Querdenken ist eine zentrale gesellschaftliche Funktion der Literatur seit langem, die Seuche wird ihr jetzt zum modischen Kostüm, den sterbenden Körper, dieses trotz aller Kriege und Krematorien verdrängte Jahrhundertthema, auftreten zu lassen - wohl parfümiert und in den Gesten des Erinnerns, Reflektierens und Sichbefragens, versteht sich. Der Gestank faulender Leiber, die Verrenkungen Sterbender gehören in andere Zeiten und Länder; aus Mittelalter und Asien gelangen sie zu uns in Geschichten, die der ästhetische Feinschmecker der Postmoderne als Spielmaterial für den Nachmittagstee in der linden Sommerluft südlicher Seeufer zu schätzen weiß.

Michael Zeller, ehemaliger Literaturwissenschaftler in Erlangen, kennt die Bedürfnislage. Sein reflektierender Kopf heißt Ruppin und ist der leitende Arzt einer Kurklinik bei Nürnberg. Als symphatischer Vertreter seiner Zunft ist er von Zweifeln an der Dressur der Körper geplagt, die er seinen Patienten als „Alltagshygiene“ abverlangt. Wozu den Leib fit machen, wenn dabei Genußfähigkeit und Lebenslust verlorengehen? Das „Gesündeln“ und der „Körperkrieg“ lassen wenig Raum für eine ganzheitliche Medizin, so manchem Fünfzigjährigen würde ein Kurschatten besser bekommen als Fango und Wassertreten.

Ruppins Vertrauen in den Sinn seines ärztlichen Tuns wird zusätzlich erschüttert durch die Beziehung zu einer new age -orientierten Frau mit „dem zweiten Gesicht“ und einer spirituellen Verbindung zum Kosmos. Von ihr erfährt er, daß das Leben vielfältiger ist, als sein Kopf erfassen kann. Ihr hat er es zu danken, wenn er nach der Erschütterung durch das Ende der Liebesgeschichte zu einer neuen Offenheit und Zuversicht fähig ist. Dieser Wandel, den der verkopfte und karriereorientierte Mediziner durch die „kleine blonde Hexe“ aus Frankfurt erlebt, ist für den Leser nur schwer nachvollziehbar. Vermutlich kam es dem Autor auch nicht darauf an, die Geschichte einer Erfahrung aus dem Milieu der Halbgötter zu erzählen. Vielmehr scheint ihm die Alltagsstory aus der Gegenwart als Transmissionsriemen gedient zu haben, mit dem er seine Recherchen zur Pestgeschichte in Europa an den Mann bringen kann. In diesen Passagen löst sich denn auch die krampfige Bemütheit in einen angemessenen Erzählton. Immer wenn Ruppin zwischen Klinikbetrieb und Wochenendbeziehung Zeit findet, sich für einen Vortrag vor dem örtlichen Lions Club in die Seuche der Vergangenheit zu versenken, sinkt auch der Leser entspannt in seinen Sessel zurück und verfolgt, bald amüsiert, bald erschreckt, wie die Menschen in der Bedrängnis die Pest erklärt, welche Hilfsmittel sie ersonnen haben, und zu welchen Hysterien und Grausamkeiten sie fähig waren. Die Flagellanten und die Judenpogrome sind da nur das bekannteste Beispiel, zu dem Fälle erzählt werden. Im Hervorholen der alten Zeit glaubt man dem Autor, daß er beim Schreiben etwas vom Kreislauf des Wachsens und Sterbens in der Natur empfunden hat, das er in dem Lichtenberg-Motto zitiert. Schade, daß er das allzu forciert mit der Geschichte vom einsichtigen Arzt zusammenschrauben mußte. Ein spannendes Sachbuch wäre vergnüglicher gewesen.

Michael Zeller, „Der Wiedergänger“, Benziger Verlag, Zürich, 320 Seiten, 36 DM