Das Ende der Natur

■ Ein engagierter Bericht zum Umdenken

Der Club of Rome - ein informeller Zusammenschluß von führenden Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik

-veröffentlichte 1972 eine Studie mit dem programmatischen Titel Die Grenzen des Wachstums. War es auch nicht das erste Mal, daß auf die drängendsten Probleme einer bedrohlich wachsenden Weltbevölkerung hingewiesen wurde, so hat diese Schrift doch eine öffentliche Wirkung erzielt, die ihresgleichen sucht. Spätestens jetzt wurde klar (oder konnte klar werden), daß die Menschheit angesichts gewaltiger Umweltzerstörung, drohender Hungerkatastrophen und eines rapiden Abbaus der natürlichen Ressourcen an einer Wegschneise stand. „Ende oder Wende“ - auf diese lapidare Formel brachte Erhard Eppler die Situation.

In den beinahe zwei Jahrzehnten, die seitdem vergangen sind, hat sich die Perspektive für Mensch und Natur nicht verbessert - im Gegegnteil: Wir können nicht mehr in der Sonne liegen, ohne an Hautkrebs und grauen Star zu denken, nicht mehr tief einatmen, weil wir den letzten Smog-Bericht noch im Ohr haben, und viele Mütter wissen nicht, wodurch sie ihrem Neugeborenen mehr schaden - dadurch, daß sie aufs Stillen verzichten oder dadurch, daß sie ihr Kind mit DDT -verseuchter Muttermilch vergiften.

Dennoch besitzen wir insgeheim ein verständliches, aber verhängnisvolles Ur-Vertrauen in die Beständigkeit und die Kraft der Natur - dies ist die These, mit der der amerikanische Wissenschaftsjournalist Bill McKibben sein jetzt veröffentlichtes Buch Das Ende der Natur einleitet. Solange es Menschen gibt - so der Autor - leben sie mit der Natur als etwas, das außerhalb ihrer selbst existiert und ihnen in ihrer zyklischen Gestalt das Gefühl von Zuverlässigkeit, Dauer und Geborgenheit gewährt. Dieses Vertrauen hat allerdings längst keine Grundlage mehr:

„Wir haben die Atmosphäre und damit das Wetter verändert. Indem wir das Wetter verändern, machen wir jeden Fleck auf der Erde zu etwas Künstlichem, zu Menschenwerk. Wir haben die Natur ihrer Eigenständigkeit beraubt, und das hat verhängnisvolle Folgen für ihr Wesen. Das Wesen der Natur ist ihre Eigenständigkeit; ohne sie gibt es nur noch uns.“

Daß wir das „Ende der Natur“ dennoch nicht wirklich wahrhaben, führt der Autor zu allererst auf unsere Zeitwahrnehmung zurück: Da die Dauer der Erdgeschichte menschliche Vorstellungen übersteigt, halten wir die Natur für ewig; große Veränderungen kommen - unserem Gefühl nach nicht plötzlich zustande, sondern benötigen unvorstellbare Zeitspannen. Obwohl wir also bisweilen über die Schnellebigkeit unserer Zeit stöhnen mögen, denken und fühlen wir gewissermaßen zu langsam.

Stichworte wie „Treibhauseffekt“ und „Ozonloch“ sind uns nicht neu, dennoch ist es erschreckend, bei McKibben all die Szenarios nachzulesen, mit denen Wissenschaftler bisher versucht haben, die globalen Katastrophen und Teufelskreise auszumalen, die der Anstieg des CO2-Gehalts der Luft mit sich bringt: Das Abschmelzen der Polkappen, große Dürreperioden, die sich mit Sturmfluten und Überschwemmungen abwechseln, die drastische Zunahme von Krankheiten durch den Anstieg der Durchschnittstemperaturen - jede einzelne Stufe, die der Autor nachzeichnet, böte Stoff für einen abendfüllenden Horrorfilm.

Dabei hat die Debatte um Klimaveränderungen für den Laien ja durchaus verwirrende Aspekte: In den Zeitungen lesen wir widersprüchliche wissenschaftliche Thesen - mal war die große Dürre in den USA 1988 und der milde Winter des letzten Jahres ein Zeichen für den beginnenden Klimawandel, mal war es eine normale Abweichung. Bürger wie Politiker nehmen diesen Widerspruch zum Anlaß für die Hoffnung, der Kelch werde überhaupt an uns vorübergehen. McKibben entlarvt diese - nur zu begreifliche - Selbsttäuschung und klärt uns auf: Tatsächlich lassen sich einige Auswirkungen der CO2 -Vermehrung nicht genau vorhersagen, weil zu viele Faktoren berücksichtigt werden müßten, die auch das leistungsfähigste Computerprogramm nicht berücksichtigen kann. Und auch der Vorstellungskraft von Wissenschaftlern sind Grenzen gesetzt. Aber: Die Unsicherheit bezieht sich nur auf das genaue Ausmaß, die Gestalt und das Tempo, mit denen die Katastrophen kommen werden; daß sie kommen, daran besteht unter den meisten Wissenschaftlern kein Zweifel. Die Verdoppelung des CO2-Gehalts der Luft, der Anstieg der Durchschnittstemperaturen um 1,4 bis 4,5'Celsius, der Anstieg des Meeresspiegels um einen bis vier Meter - alles in absehbaren Zeiträumen von zehn bis vierzig Jahren - diese Umstände sind gewiß. Es geht vor allem darum - dies macht McKibben mit einem sinnfälligen Bild deutlich - ob sich das Klima um das sechzigfache oder „nur“ um das zehnfache seines bisherigen Tempos verändert:

„Doch selbst dieser Faktor bedeutet eine fast unvorstellbare Beschleunigung; es ist, als würden wir im Auto mit hundert Stundenkilometern fahren, und plötzlich klemmt das Gaspedal, die Bremsen versagen, und wir fahren mit tausend Stundenkilometern. Da spielt der Unterschied zum sechzigfachen Tempo kaum noch eine Rolle.“

Kein Alibi also für Abwarte-Strategien! Im übrigen sind so weist der Autor nach - die meisten Prognosen bisher eher zu optimistisch ausgefallen: So war schon 1987 ein CO2 -Gehalt der Luft erreicht, der eigentlich erst für das Jahr 2020 erwartet worden war.

Beinahe ebenso erschütternd wie viele Prognosen sind die Hilflosigkeit und der Zynismus, mit denen bisher Politiker und Wissenschaftler der laufenden Katastrophe begegnen. Die Beschwichtigungsneigung auch der bundesdeutschen Politiker ist uns spätestens seit Tschernobyl vertraut. Der Ratschlag eines hochrangigen Reagan-Beraters, sich bei vermehrter UV -Strahlung mit Schirmmützen und Sonnenbrillen gegen Hautkrebs und Augenkrankheiten zu schützen, erinnert fatal an die Verleugnungsmechanismen der fünfziger Jahre: Damals empfahl man den Bürgern, bei radioaktivem Niederschlag eine Aktentasche über den Kopf zu halten.

Die Vorschläge mancher Wissenschaftler, die McKibben hier wohl erstmalig einem bundesdeutschen Publikum präsentiert, bezeugen auf ihre Weise ein hochgradig entfremdetes Denken: Da empfielt ein Professor der Princeton-University, rund um die Erde Laserkanonen aufzustellen, um das FCKW zu zerschießen, bevor es die Ozonschicht erreichen kann. Mal sollen Styroporkugeln die Weltmeere bedecken, um die Erdwärme zu reduzieren, mal sollen an Satelliten befestigte Folien der Erde eine „Jalousie“ verschaffen - all diese Versuche, mit geballtem Technologieeinsatz technologisch bedingte Schäden zu bekämpfen, gleichen - so McKibben einer Trotzreaktion.

Aber Zynismus und Ignoranz sind keine Privilegien von Politikern und Wissenschaftlern. Selbst wenn wir uns keine Aufkleber mit Sprüchen wie „Freie Fahrt für freie Bürger“ oder „Mein Auto fährt auch ohne Wald“ an die Heckscheibe kleben, verfügen wir über erstaunliche Verleugnungskapazitäten: Der Schock, den die Ölkrise 1973 auslöste, aber auch die damals ansatzweise erkennbare Bereitschaft zum Undenken - vergessen. Seitdem die Benzinpreise fallen, feiert die Automobilbranche ein Rekordjahr nach dem anderen. Die Zahl der Pkw pro Einwohner hat sich seit 1973 fast verdoppelt. Und in den nächsten Jahren soll „endlich“ der Motorisierungsrückstand des Ostblocks überwunden werden.

Wir beruhigen uns damit, daß wir ein Katalysator-Auto fahren, obwohl wir wissen oder wissen könnten, daß der Kat den CO2-Ausstoß sogar noch erhöht. Wir kaufen phosphatfreies Waschmittel und verlassen uns - halb skeptisch, halb resigniert - auf die Kürzel „Bio“ oder „Natur“, mit denen sich mittlerweile alles schmückt, was etwas auf sich hält. Zwischendurch fliegen wir, so oft wir können, in die exotischen unberührten Gegenden der Welt, um uns von der abgasverpesteten Außenwelt und der gestreßten Innenwelt zu erholen. Und wenn nicht gerade niedliche Robbenbabies sterben, verleugnen wir recht gut, daß die Katastrophen nicht vor uns liegen, sondern heute stattfinden. Natürlich graut uns vor den Monstern der Gentechnik, aber wenn uns Genmanipulation säureresistente Bäume kreiert - wer weiß, so meint der skeptische McKibben, ob uns nicht alles recht ist, damit wir nur um den Verzicht auf das einmal Erreichte herumkommen?

Der Autor hat keine Patentrezepte - und vermag im Grunde nur wider alles Wissen zu hoffen. McKibben lebt mit seiner Frau in den abgelegenen Abdirondack Mountains im Norden der USA. Die erschreckenden, aber oft auch abstrakten Szenarios der Wissenschaft ergänzt er immer wieder durch Berichte über Veränderungen in seiner unmittelbaren, bis vor einigen Jahren noch intakten Umgebung. Seine Sympathie gehört den Aktivsten der Umweltgruppe „Earth first!“, die den Schutz der Natur auch dort anstrebt, wo diese dem Menschen nicht unmittelbar nützt. Mit ihren Sabotageakten fiele „Earth first!“ hierzulande unter das Verdikt des Ökoterrorismus. Doch die Empörung über diese Radikalen wird uns über die Radikalität der zukünftigen Katastrophen nicht hinwegtäuschen können, die die neue, von uns geschaffene „zweite Natur“ uns noch bereiten wird.

Die Katatstrophenmeldungen erschlagen uns. Sofern wir unsere Hilflosigkeit nicht in Zynismus kleiden, fühlen wir uns überfordert: Was kann man als Einzelner schon tun? Welchen Sinn macht es schon, Altpapier zu sammeln oder aufs Auto zu verzichten, wenn täglich mehrere hundert Hektar Regenwald von der Landkarte verschwinden? McKibben bemüht sich gar nicht erst um einseitige Schuldzuweisungen. Seine Erkenntnis, daß wir alle unser Denken und Verhalten ändern müssen, um die sichere Klimakatastrophe wenigstens zu begrenzen, mag banal klingen und wenig Aussicht auf Erfolg versprechen - nur: Wir haben gar keine andere Wahl, als uns schnellstens an ein Denken zu gewöhnen, daß jeden Schritt unseres Alltags darauf überprüft, inwieweit er einen Beitrag zur Klimaveränderung, zum Ende der Natur darstellt.

So kann dieses Buch vor allem unser Bewußtsein dafür schärfen, daß wir etwas verloren haben und noch mehr verlieren werden, wenn wir uns nicht radikal ändern. Die Grundstimmung, die das Buch erzeugt, ist Trauer - auch Trauer über den Verzicht, den wir freiwillig oder gezwungenermaßen werden leisten müssen - aber Trauer ist eine gute, wenn nicht unabdingbare Voraussetzung für einen Neuanfang unter veränderten Vorzeichen.

Peter Tomuscheit

Bill McKibben: „Das Ende der Natur“, List Verlag, 1990, 34,-DM