Der Tarifvertrag

■ Rechte und Pflichten der Vertragsparteien / Rund 30.000 Tarifverträge in der BRD registriert / Durchführungspflicht

Der Rote Faden

Teil 12

Der letzte Teil der Serie behandelte die Tarifautonomie. Die im Grundgesetz verankerte Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften beinhaltet auch die Autonomie, innerhalb des festgelegten Wirkungskreises Ziele und Mittel des tarifpolitischen Handelns selbst zu bestimmen. Damit ist das Tarifwesen relativ frei von staatlichen Vorgaben und Eingriffen. Das Tarifvertragsgesetz (TVG) regelt, wer in welcher Form und mit welcher Wirkung Tarifverträge abschließen kann (d. Red.).

4. Normativer und schuldrechtlicher Teil des Tarifvertrages

Nach §1 Abs.1 TVG regelt der Tarifvertrag zweierlei: die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien - man nennt dies den schuldrechtlichen Teil - und die auf die Arbeitsverhältnisse bezogenen Rechtsnormen - dies nennt man den normativen Teil (er wird im nächsten Abschnitt umrissen).

Das Nebeneinander beider Teile und insbesondere die Existenz eines schuldrechtlichen Teils verweist erneut auf das System der Tarifautonomie.

Bei hoheitlicher Festsetzung der Arbeitsbedingungen (durch Anordnungen usw.) ist - da überhaupt keine privatrechtliche Beziehung der Beteiligten vorliegt - für schuldrechtliche Verpflichtungen kein Raum. Da der Tarifvertrag hingegen als privatautonomes Gestaltungsmittel betrachtet wird, entfaltet er auch Pflichten zwischen den Parteien, die denen zwischen anderen privatrechtlichen Vertragspartnern entsprechen.

Sie lassen sich alle herleiten aus der Grundpflicht, daß Verträge zu erfüllen sind. Daraus resultieren die sogenannte Durchführungspflicht und die Pflicht, die Durchführung störender Handlungen zu unterlassen.

Hinter diesen technisch wirkenden Begriffen verbergen sich höchst brisante Sachverhalte. Zur Durchführungspflicht wird zum Beispiel gezählt, daß eine Gewerkschaft ihre Mitglieder, die während der Laufzeit eines Tarifvertrages spontan streiken, zum Abbruch ihres Streiks anzuhalten hat.

Die Fälle der Unterlassungspflicht werden unter der sogenannten „Friedenspflicht“ zusammengefaßt: Die Gewerkschaft darf während der Laufzeit des Tarifvertrages nicht zum Streik aufrufen, keinen spontanen („wilden“) Streik übernehmen, ja nicht einmal eine Urabstimmung durchführen.

Diese Pflichten sind im einzelnen sehr umstritten; dies wird näher dargestellt im Artikel zum Arbeitskampfrecht. Hier ging es nur darum, den Zusammenhang zwischen Tarifautonomie und der Existenz eines schuldrechtlichen Teils im Tarifvertrag zu verdeutlichen.

Für den Arbeitsalltag bedeutsamer ist der normative Teil des Tarifvertrages. Auch in ihm schlägt sich die Tarifautonomie nieder.

5. Rechtsnormen

des Tarifvertrages

Sie tut es einmal dadurch, daß die Gegenstände des normativen Teils aufgezählt, klassifiziert, nicht aber eingegrenzt werden. Unter Rechtsnormen, die „den Inhalt, den Abschluß und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen“ (§1 Abs.1 TVG) - sogenannte Inhaltsnormen -, gehört schließlich der gesamte mögliche Konfliktstoff des betrieblichen Alltags. Die Fülle darauf beruhender Regelungen läßt sich daran ablesen, daß gegenwärtig rund 30.000 Tarifverträge in der Bundesrepublik registriert sind.

Zum anderen aber stattet das TVG die Tarifvertragsparteien mit Vollmachten aus, die auf dem Gebiet des normalen, zivilrechtlichen Vertragsrechts nicht gegeben wären. Der normative Teil darf auch betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen (§1 Abs.1 TVG).

Betriebsnormen sind solche, die den ganzen Betrieb (und nicht nur die einzelnen Arbeitsverhältnisse) betreffen, etwa Fragen der Arbeitsorganisation, oder ob ein bestimmter gefährlicher Arbeitsstoff verwendet werden darf oder ob und wie umweltschädigende Emissionen des Betriebs zu unterbinden sind usw.

Betriebsverfassungsrechtliche Normen können die Mitwirkungsrechte des Betriebsrates über das BetrVG hinaus regeln. Auf dieser Grundlage sind in der Bundesrepublik verschiedentlich echte Zustimmungsrechte des Betriebsrats etwa bei Kündigungen vereinbart worden, die das BetrVG nicht enthält.

Wie stark das TVG auf eine Wirksamkeit der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien zielt, zeigen seine Regelungen über die Rechtswirkungen des normativen Teils des Tarifvertrages:

-Die Rechtsnormen des Tarifvertrages gelten unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen (§4 Abs.1 TVG). Unmittelbar bedeutet, daß ihre Anwendung im einzelnen Arbeitsvertrag nicht noch einmal vereinbart werden muß (zum Beispiel erstrecken sich die Normen automatisch auch auf ein Gewerkschaftsmitglied, das erst nach Abschluß des Tarifvertrages im Betrieb eingestellt wird).

Zwingend bedeutet, daß (Tarifbindung immer vorausgesetzt) von Tarifnormen nicht durch Einzelarbeitsvertrag zuungunsten des/der Beschäftigten abgewichen werden darf (daß eine Abweichung zugunsten des/der Beschäftigten zulässig ist, ergibt sich aus §4 Abs.3 TVG, dem sogenannten „Günstigkeitsprinzip“).

-Betriebs- und betriebsverfassungsrechtliche Normen gelten sogar dann schon „im Betrieb“ (das heißt für alle Beschäftigten - unabhängig von deren Tarifbindung), wenn nur der Arbeitgeber tarifgebunden ist (§3 Abs.2).

-Schließlich wirken nach §4 Abs.5 TVG nach Ablauf des Tarifvertrages seine Rechtsnormen (nicht der schuldrechtliche Teil: die Friedenspflicht zum Beispiel erlischt!) weiter, bis sie „durch eine andere Abmachung ersetzt werden“.

Normalerweise wird mit dieser Bestimmung die Zeitspanne zwischen zwei Tarifverträgen überbrückt.

Eine „andere Abmachung“ kann aber auch eine einzelvertragliche sein - die zwingende Wirkung fehlt dem Tarifvertrag also nach seinem Ablauf.

Alle geschilderten Elemente zeigen, wie weitgehend das TVG den Tarifvertrag wirklicher Normsetzung gleichsetzt. Rechtsnormen von Tarifverträgen werden deshalb vom Bundesarbeitsgericht nicht nach Grundsätzen der Vertrags-, sondern der Gesetzesinterpretation ausgelegt.

Das ändert aber nichts daran, daß der Ausgangstatbestand der Tarifvertrag - auf der Autonomie der Tarifvertragsparteien, nicht auf staatlicher Setzung, beruht.

6. Allgemeine Verbindlichkeit

Dies trifft selbst noch für die weitestgehende Abweichung vom Prinzip privater Autonomie zu, die das TVG kennt: die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit - AVE - eines Tarifvertrages durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (§5 TVG). Die AVE ist zweifellos ein hoheitlicher Akt. Sie erstreckt im Ergebnis die Rechtsnormen des Tarifvertrages, die nicht tarifgebunden sind (§5 Abs.4 TVG).

Dieser Fremdkörper im System der Tarifautonomie ist auch keineswegs gering zu schätzen. Immerhin waren 1988 in der Bundesrepublik 539 Tarifverträge (vor allem der Bau- und Textilbranche), die die Arbeitsverhältnisse von rund 4 Millionen ArbeitnehmerInnen regeln, für allgemeinverbindlich erklärt.

Daß die AVE gleichwohl mit der Tarifautonomie vereinbar bleibt, sollen die zahlreichen, in §5 enthaltenen Kautelen sicherstellen: der Antrag einer Tarifvertragspartei muß vorliegen; die AVE darf nur im Einvernehmen mit dem aus den Spitzenorganisationen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammengesetzten Ausschuß erklärt werden - und auch dann nur bei einem relativ hohen Grad der Tarifbindung auf Arbeitgeberseite und einem öffentlichen Interesse (siehe §5 Abs.1 Satz 1 TVG).

Und man darf nicht vergessen: Selbst im Falle der AVE bleibt ihr Ausgangstatbestand ein privat ausgehandelter Tarifvertrag, nicht ein Schiedsspruch oder eine staatliche Anordnung.

Ulrich Mückenberger

Der Autor ist Professor für Arbeitsrecht in Hamburg.

Die ersten zehn Teile der Serie können gegen DM 4,- bestellt werden bei: taz-Archiv, z.H. Randy Kaufmann, Kochstr.18, 1 Berlin 61.