Mut zum (Alp-)Träumen

■ Ein Sommerabend unterm Ahorn: Besuch bei einer Gruppe der PDS-nahen Jugendorganisation "Junge Genossinnen" in Friedrichshain

Friedrichshain. Die Schubladen im Kopf klemmen. Knut, Regine, Uwe, Ralf und die anderen passen in keine so richtig rein. Die fünf jungen Frauen tragen eher gediegene Sommerkleider und Röcke, die sechs Männer kurze Hosen, Bermudas, Pullis, Tageshemden, Stoffhosen, ordentlich gekämmte Haartracht. Der Umgangston ist ruhig, sachlich, zurückhaltend. Brav, denke ich. Eine Wilmersdorfer Gymnasialklasse? Jungdemokraten? Katholische Jugend? Von der bewußt aggressiven Folklore westlicher linker Szene keine Spur, aber auch nicht ein Hauch von westlich friedensbewegtem Müslischick oder östlich bürgerbewegtem Oppositionshabitus. Wer gerne sortiert, muß eine neue Schublade anlegen für die PDSler unter dem Ahornbaum im Hinterhof der Parteigeschäftsstelle.

„PDSler“ - diese Eingrenzung würden sich die jungen Leute verbitten. DieJungen GenossInnen sind stolz darauf, daß ihr nach dem Wendeparteitag der bankrotten SED entstandener, noch halbfertiger Verband aus „Mitgliedern und Sympathisanten“ besteht. Wer mit dem PDSSEDStasi-Brett vorm Kopf kommt, findet hier reichlich Bestätigung: Kaum hat man den Abendpförtner und ein Poster vom großen Vorsitzenden Gysi passiert und nach einem muffigen Treppenhaus den DDR -spießigen Sitzungssaal mit geleckt sauberer Holzfurnier -Schrankwand erreicht, blickt man der monumentalen Reproduktion eines ölgemalten, väterlichen Karl Marx‘ ins Auge.

... und tausend Wörter enden mit der Silbe -ung

Doch die Hitze zieht die jungen Leute an diesem Mittwoch abend hinaus auf die Bänke im Hof. Während einer der Jungs die Limoflaschen mit dem Schlüsselbund aufreißt, beginnt Knut (33) mit der heutigen „Arbeit“. Berichte über Berichte, Kommissionen, Parteigremien, Funktionäre, Termine über Termine. Tausend Wörter enden auf -ung.

Knut, eine Art Chef, der sich bescheiden als Sprecher der Gruppe bezeichnet, referiert. Konzentriert, als handele es sich um eine Unterrichtsstunde, lauschen die anderen, notieren eifrig Termine in vollgeschriebene Notizbücher, stellen nur manchmal dizipliniert sachdienliche Zwischenfragen. Juso-Treffen, frühe Siebziger, denke ich.

Kurze Heiterkeit - meist aber gepaart mit Empörung - kommt immer nur dann auf, wenn verlesene Schreiben hauptamtlicher Parteiinstanzen zu sehr an früher erinnern. Etwa der soeben „von oben“ vorgegebene, knochentrockene „Aufruf 'Auf zur inhaltlichen Diskussion'“, den die Basis nun bitte schön zu diskutieren habe. Das Lachen über die Überschrift hat einen bitteren Beiklang. Den hat für die jungen Friedrichshainer auch das für westliche Ohren zunächst völlig unverdächtige Wort „Aufgabe“. Sofort zuckt einer zusammen: „Das ist FDJ -Stil.“ Sie müssen es wissen, denn einige von ihnen „waren drin“. Ein Bekenntnis, das locker über die Lippen geht. Nicht ohne ein Quentchen Stolz. Nicht Stolz auf die FDJ, wohl aber darüber, daß man dies zugibt.

Simone Weil, der

Grill und der Weltfrieden

Kohl hin, Bundestag her - die jungen GenossInnen in Friedrichshain beschäftigen wichtigere Dinge. Die Aktivitäten zum Weltfriedenstag am 1. September. Man hat schriftlich externe Verbündete für eine große Aktion am Potsdamer Platz gesucht. Frieden geht alle an. Doch der Rücklauf aus der linken DDR-(Oppositions -)Szenerie ist deprimierend gering. Außer einer Wilmersdorfer Friedensgruppe hat nur jemand aus dem Antikriegsmuseum geantwortet, den Briefstil der Jungen GenossInnen gerügt, sich höflich distanziert - aber eine derzeit laufende Ausstellung empfohlen, über die mystisch -philosophische französische Schriftstellerin Simone Weil (1900-1959). Ihr Thema: Entwurzelung des Menschen, Umbruchzeiten, Fortschrittskritik. Trotz der Ablehnung ist Knut folgsam hingegangen, kann die Ausstellung den GenossInnen empfehlen - und hat zur Orientierung sogar Bücher zu Simone Weil mitgebracht. Aus der Staatsbibliothek

-„natürlich aus der anderen“. Gekicher.

Daß mit ihnen niemand von außerhalb den Friedenstag begehen will, verwundert die jungen Sozialisten nicht. Aber es schmerzt dennoch. „Man muß klein anfangen, die Sache durchziehen, selbst wenn niemand kommt ...“, sagt einer. Durchgezogen wird die Idee preußisch-penibel mit akribischer Planung. „Treptow stellt den Grillstand, das ist hoch und heilig versichert. Köpenick, Lichtenberg und so stimmen dann noch ab. Lichtenberg will die Materialfrage klären„; routiniert und knapp gibt einer den Stand der Dinge wieder. Geplant ist eine riesige Friedenstaube aus Stoffbahnen, die zwischen Ost und West in Berlins Himmel steigen soll. Die Basis näht sie zusammen, die da oben im Apparat und die PDS -Vertreter in der Volkskammer sollen aber bitte schön die Aktion unterstützen. „Können die überhaupt nähen?“ witzelt einer.

Es stinkt

im Hauptbahnhof

Im Hinterhof wird's immer düsterer, als Regine nach Knuts langem Vortrag über ihre heutige Sitzung im Stadtbezirksparlament referiert. (Geld-)Probleme über (Geld -)Pro- bleme, vom Gesundheitswesen bis zum Umweltschutz. Völlige Lähmung der Verwaltung. Der SPD-Bürgermeister kriegt ein Kompliment: „Der Mann macht sich echt 'nen Kopf.“ Was wird mit den vielen Flüchtlingen am Hauptbahnhof? Jemand wirft die Sicht der Bürger kurz in die Debatte, der einstige Renommierbau sei so bald nach Fertigstellung schon wieder heruntergekommen. „Das stinkt dort wie in einer Kloake.“ Keiner hängt's den Flüchtlingen an. Aber die Anwohner müsse man auch verstehen. Ein „Bahnhof-Zoo-Viertel“ dürfe hier nicht entstehen. Ortsgruppen-Sozialdemokraten, denke ich.

In Friedrichshain ist es Nacht geworden. Die jungen GenossInnen sind immer noch wach und ernst bei der Sache. Unterm Ahorn ist's zu dunkel, als daß Knut nun noch „das Papier vom Kreisvorstand“ vorlesen könnte. Man schenkt's sich. „Gott sei Dank“, seufzt jemand. Die hochkomplizierte Frage, wie man einen riesigen wasserköpfigen Kreisvorstand mit Hilfe von ehrenamtlichen Vorsitzenden („geht das?“) und unzähligen, schrumpfenden Basisgruppen und anderen Gliederungen neu gestalten könnte, wird im dunklen Hinterhof nur noch andiskutiert.

Warum setzt man sich an seinem Feierabend - alle sind „noch berufstätig“ - freiwillig solch trockenen, stundenlangen Vorträgen aus? Fast ein wenig verschämt, geben sie die Papierlastigkeit ihrer „Arbeit“ zu. Anders gehe das nicht, wenn man es ernst mit dem Aufarbeiten und Aufräumen in der Partei meine. Es geht weiterhin um den Kampf zwischen Apparat und Basis, um die eigene Glaubwürdigkeit. „Die Partei ist schon viel transparenter geworden, aber sie muß noch transparenter werden.“

„Unser Problem ist

bloß, daß so etwas nicht nach draußen dringt.“

Für Außenstehende ist dies angesichts des herangaloppierenden Wahltermins eine völlig weltfremde Prioritätensetzung, das sehen die Friedrichshainer auch. Aber: „Wenn wir unter fünf Prozent bleiben, dann müssen wir damit leben. Der Bundestag ist nicht das Alleinseligmachende.“ Wenn man nun ein Hochglanzwahlprogramm ins Zentrum der Aktivitäten rückte, argumentieren sie, könnten die Gegner sie gerade wegen des fehlenden Blicks nach hinten verurteilen. Knut: „Unser Problem ist bloß, daß so etwas nicht nach draußen dringt.“

Warum überhaupt PDS, Isolierung, Diffamierung, Filz, Krusten, Vergangenheit? Warum nicht einfach in die SPD eintreten, wenn man sich schon als „grün-rot“ bezeichnet und sich von radikal linken Hausbesetzern der nahen Mainzer Straße als „zu sozialdemokratisch“ anmachen lassen mußte? „Die SPD ist hier zur Zeit schlimmer als die CDU“, sagt einer. „Dann wäre ich ein Wendehals“, fügt ein anderer hinzu. Dasselbe gelte, wenn man sich als Ex-SED-Mitglied nun unter das Umfeld vom Bündnis 90 mischte. Dessen rigorose Abgrenzung von ihnen, sagt er bitter, „tut weh“.

Mit PDS-Aufkleber U-Bahn fahren?

PDSler im Alltag einer zunehmend aggressiveren Noch-DDR. Kann man mit Aufklebern der Partei auf der Tasche noch U -Bahn fahren? In Berlin schon, antwortet Uwe. Aber schlechte Erfahrungen in einer Kneipe hat er auch schon gemacht. Und Ralf sah kürzlich ziemlich übel aus, nachdem er einer jungen Frau zu Hilfe kam, die wegen eines PDS-Symboles von mehreren Typen verprügelt wurde. Nachnamen sollten auch nicht im Zeitungsartikel stehen, bittet eine Frau. Sie ist bald arbeitslos und muß sich bewerben.

„Mut zum Träumen“. Zum Slogan ihrer Partei befragt, fallen den jungen Sozialisten keine Traumantworten ein. „Zur Zeit“, sagt Uwe (20), „gibt es mehr Alpträume - aber danach fängt man wieder zu träumen an.“ Er selbst mache hier mit, weil er seinen Kindern mal Antwort geben wolle, was er damals gemacht habe. Ein anderer sagt, nach wie vor ginge es darum, einen dritten Weg zu finden, wenn die Menschheit nicht untergehen solle. „Jeder ist ein Mosaikstein.“

Der Recorder

für 99 Mark ...

Träume von den „Segnungen“ des nun zugänglichen Kapitalismus? Die Friedrichshainer zaudern irritiert. Klar, man war drüben. In der Stabi, bei „Heimatklängen“ im Tempodrom, im Haus der Kulturen der Welt. Kein Wort vom Ku'damm, vom privaten Konsum, allenfalls nachsichtiges Mitleid für westsüchtige DDR-MitbürgerInnen. Erst nach einer Weile durchbricht Ralf (23) die idealistische Glasglocke: „Man jenießt jenauso det Flair, bis nachts im Straßencafe zu sitzen, wie andere auch. Oder 'nen Recorder für 99 Mark. Und ick find det jut, daß die Kaufhalle jetzt so anders aussieht.“