TÜV-Psychologe: “... auch taz-Leser fahren mit Alkohol Auto“

■ Der Blick in die Flasche statt auf die Straße: Psychologe Paul Brieler vom TÜV-Spandau zur Frage, wieviel AutofahrerInnen trinken und warum, und über den Sinn seiner Arbeit

INTERVIEW

taz: Wann sind Sie denn das letzte Mal mit dem Auto gefahren und hatten vorher Alkohol getrunken?

Paul Brieler: Vor zwei Wochen nach einem Abendessen. Da hatte ich ein Glas Wein getrunken.

Wenn Sie von der Polizei kontrolliert worden wären, hätten Sie dann zum Medizinisch-Psychologischen Dienst des TÜV gemußt?

Nee. Weil ich 0,0 oder maximal 0,1 Promille im Blut gehabt hätte - das Glas Wein hatte ich vier Stunden vorher getrunken.

Und wieviel Alkohol hatten Leute im Blut, die bei Ihnen ein Gutachten machen lassen?

Erst-Auffällige mindestens 1,6 Promille, bei Mehrfach -Auffälligen ist auch eine geringere Promillezahl ausreichend.

Wieviel muß man trinken, um zum Beispiel auf 1,6 Promille zu kommen?

Ich müßte drei Liter Wein oder sechs Liter Bier trinken.

Kommen zu Ihnen Leute, die so viel getrunken haben - sechs Liter Bier?

Es gibt wenige, die das zugeben. Unsere „Kunden“ sind subjektiv der Meinung, daß sie nicht viel trinken, daß sie zufällig aufgefallen seien und daß sie diese Promillezahl erreicht hätten, weil sie den ganzen Tag nichts gegessen, lange gearbeitet hätten und müde gewesen seien. Manche vermuten auch, daß die Blutprobe verwechselt worden sein muß. Damit haben sie für sich eine Erklärung, warum es überhaupt zu so einer hohen Promillezahl gekommen ist. Subjektiv haben sie sich ja auch wohl und sicher gefühlt, häufig sind sie lange Strecken gefahren, bevor sie aufgefallen sind. Es ist ein psychologisches Phänomen, daß man den hohen Alkoholkonsum zwar tief in seinem Hinterkopf erkennt, aber ihn sich nicht eingesteht. Von daher wird der tatsächliche Alkoholkonsum in der eigenen Wahrnehmung reduziert. Dann heißt es auch Bierchen.

Erfahren Sie, warum sie sich zulaufen lassen?

Frauen trinken sehr häufig, weil sie Probleme haben. Zum Beispiel bei der Scheidung, bei Trennungen, Tod in der Familie, bei Krankheiten. Aber noch häufiger versuchen sie Konflikten mit Medikamenten zu entgehen. Zu 95 Prozent kommen aber Männer hierher.

Warum betrinken die sich?

Primär aus sozialen Anlässen. Männer trinken in Gruppen, in Sportvereinen, im Kleingarten, in der Kneipe nach Arbeitsschluß und im Beruf. Natürlich trinken sie auch wegen Problemen.

Fängt das schon mit 18jährigen an, und hört das erst wieder bei 60jährigen auf?

Unter Jugendlichen ist eine Häufung festzustellen mit nicht allzu hohen Promillewerten. Ab 25 Jahren geht das über 1,6 bis hoch auf 3 oder 4 Promille. Ab 45 bis 50 Jahren nimmt das wieder ab. Denn wer lange Alkoholmißbrauch betrieben hat, spürt die körperlichen Folgen.

Angenommen ich wäre mit 1,6 Promille erwischt worden und säße nun hier bei Ihnen: Da würde ich natürlich reumütig erklären, daß das mit dem Trinken ein ganz großer Fehler gewesen sei und ich das nie wieder machen würde. Würden Sie in ihrem Gutachten der Führerscheinstelle empfehlen, der Mann dürfe wieder Auto fahren?

Das hängt davon ab, ob sie schon Verkehrsdelikte begangen haben, ob sie das erste Mal mit Alkohol aufgefallen sind, ob sie einen Unfall mit Verletzten oder Toten verursacht haben. Medizinisch prüfen wir, ob Symptome eines längeren Alkoholmißbrauches vorliegen, zum Beispiel ob Sie nur noch ein eingeschränktes Reaktionsvermögen haben. Den Psycholgen interessiert, welche Angaben Sie selber zur Alkoholvorgeschichte machen, wie Sie das verarbeitet haben und welche Konsequenzen Sie daraus für die Zukunft ziehen.

Natürlich würde ich sagen, wenn ich in Zukunft irgendwo hinfahre und da wird gefeiert, rühre ich Alkohol nicht mehr an. Wie durchschauen Sie mich?

Es gehört zur Ausnahme, daß Leute erkennen, daß sie Probleme mit Alkohol haben oder Alkoholiker sind. Wenn jemand sagt, er hatte früher keine Probleme, dann wird er nicht dazu kommen, heute weniger zu trinken. Warum auch? Der Psychologe unterhält sich über das Delikt, über den derzeitigen Alkoholkonsum, über Strategien, Alkoholfahrten zu vermeiden.

Es wird diskutiert, ob die Bundesrepublik die 0,0-Promille -Regelung aus der DDR übernehmen soll. Realsozialistischer Fortschritt auf kapitalistischem Asphalt?

Alle wissen, daß man mit bis zu 0,8 Promille fahren darf, aber kaum einer weiß, wieviel das ist. Da geht man nach seinem subjektiven Empfinden und fährt alkoholisiert. Das geht ja auch ganz oft gut. Wir haben eine Dunkelziffer bis zu 1.000 Fahrten mit mehr Alkohol als 0,8 Promille im Blut. Unsere Klienten sagen, es würde ihnen mehr helfen, wenn es eine 0,0-Promille-Regelung gäbe: Entweder ich trinke, oder ich fahre. Aber die uns bekannten Zahlen aus der DDR verweisen darauf, daß das absolute Alkoholverbot nicht wirksamer war als die 0,8-Promille-Regelung.

Das heißt, es gab in der DDR genauso viele Unfälle mit Alkohol wie bei uns?

Der Anteil an den Gesamtunfällen ist gleich.

Kennen Sie taz-Leser? Saufen die genauso hemmungslos wie der Rest der Welt?

Ich habe in meinem Bekanntenkreis viele taz-Leser. Da ist bekannt, ich darf nicht unter Alkoholeinfluß fahren. Trotzdem wird auch unter taz-Lesern genauso mit Alkohol, zum Teil auch mit Drogen, gefahren. Selbst Menschen, die sich kritisch mit ihrer Umwelt auseinandersetzen, gegen Zerstörung der Umwelt, gegen immer mehr Verkehr usw. protestieren, setzen sich nicht kritischer mit sich selbst auseinander. Sie saufen wie andere auch, sie fahren wie andere auch. Und daher sehen wir beim TÜV auch häufig taz -Leser im Wartebereich.

Das Gespräch führte Dirk Wildt