Reach out for Begrüßungsgeld

■ Über die Videofilme zum 9.November 1989

Von Christian Petzold

Seit Jahrzehnten funktioniert der Samstag im öffentlich -rechtlichen Bereich folgendermaßen: Die Sportschau um 18 Uhr liefert die Dokumentation des Bundesligaspieltages. Ein schnell und live gesprochener Kommentar zu hastig geschnittenen Bildern, zumeist Totalen, und Zeitlupen, die nur die langsame Wiederholung eben dieser Totalen sind. Das Sportstudio um 22 Uhr im anderen Programm analysiert schon das Ereignis. Ein paar Stunden sind vergangen, Spieler und Trainer finden sich bereit zu Interviews, andere Kamerastandpunkte werden präsentiert, Spielzüge mit dem „Montagsmalerstift“ nachgezeichnet und Schiedsrichterentscheidungen durch „Replay-Referees“ kritisiert. Ein Jahr nach dem Ereignis gibt es dann eine Videokassette zu kaufen, die eine Saison porträtiert, einzelne Spieltage unter verschiedene Gesichtspunkte stellt und metaphorische Zusammenhänge erstellt. Früher fanden die Sportereignisse sogar noch den Weg ins Kino: Im Olympiafilm '72 zerlegte Peckinpah den Hochsprung durch 30 35-mm-Kameras. Je nachträglicher auf das Ereignis Bezug genommen wurde, um so analytischer die Arbeit. Das Merkwürdige an den Videofilmen zum 9.November 1989 ist nun, daß diese in ihrer Nachträglichkeit das Ereignis als kollektives Gefühl reproduzieren wollen - also so etwas wie die äschten Tränen, das äschte Lachen und die äschte Wirkung ins Bild zu setzen versuchen. Fundamentalistische Videos mit der Goldkante.

Wäre damals Ernest Bornemann Intendant des Zweiten Deutschen Fernsehens geworden und hätte er sich mit seiner Forderung durchgesetzt, nur Live-Fernsehen zu machen, also gar nicht aufzuzeichnen, sondern nurmehr zu übertragen, wären uns diese Bilder des neunten November als gespeicherte erspart geblieben. Doch nun beschwören sie ihre eigene Ereignishaftigkeit.

Wie solch ein Ereignis montiert, kommentiert und musikalisch unterlegt wird, welche Ikonographie benutzt wird und woher die kommt, wird im Folgenden an fünf dieser Videokassetten untersucht.

„Fünf Wochen

im Herbst“

Alle Videos besitzen Untertitel, die die Idee eben dieser Videos bezeichnen. Beim 'Spiegel‘ ist es „eine deutsche Revolution“. So versucht der Film immer wieder, Revolutionsszenarien zu erspähen, sich der langen Tradition der Revolutionsikonographie zu bedienen. Die filmische Grundstruktur sind Gegenschuß und Parallelmontage: Der Palast der Republik in der Abendsonne, davor die Mächtigen und ihre Schergen (40.Jahrestag), auf der anderen Seite des Flusses, Sonne im Rücken, die Demonstranten. Die Kamera auf der Zugbrücke, der Kommentar etwas darüber. Ein Gegenschuß, der sich durch den Film zieht. Oder die Vorbereitungen zur Militärparade, während sich gleichzeitig, wie in den Kinderbibel-Illustrationen von sich versteckenden Christen, das Volk in den kerzenbeleuchteten Kirchen sammelt.

Am Ende, als diese einfache Zweifrontengeschichte nicht mehr so hinhaut (der Gegenschuß am Begrüßungsgeldschalter: Ist die Sparkassenbeamtin Mutter Teresa oder zynisch -toupiertes Kapitalistenungetüm und die wohlgeordnete Schlange doof oder unterdrückt oder gut erzogen?) und die Revolutionsmetapher keine Bilder mehr findet, überschlägt sich der Kommentar, der bisher nur Bildunterschriften wie Titel geliefert hatte. Wo die eine Metapher all das nicht mehr zusammenhalten kann, tauchen an ihrer Stelle Tausende auf - aber die Bilder kommen da nicht mehr mit, und der Kommentar entschwindet nach oben. Dem 'Spiegel‘ geht es um Poesie als das Gegenteil von Analyse. Wenn der durch das Brandenburger Tor torkelnde Kohl gezeigt wird und sich der Kommentar über seine Erscheinung amüsiert, dann wird nicht die Politik, die Kohl repräsentiert, sondern seine äußerliche Erbärmlichkeit kritisiert, die die tiefe Poesie des Volkes nur besudelt, seine echte und wahre Kraft verdreht und den Schimmeljeans die Unschuld raubt. „Gib uns die Mark“ - das gibt es in diesem Film nicht zu sehen, nur Kirchen, Krankenschwestern und den deutschen Herbst mit seinem gefallenen Laub und seiner deutschen, schwermütigen Seele.

Den Film durchziehen Bilder wie aus dem 'Geo'-Magazin, unterlegt mit romantischer Musik und einem eingeblendeten Datum. Es sind mit langer Brennweite aufgenommene Landschaften zu sehen, deutsche Landschaften in der morgendlichen Herbstsonne. Die Bilder sind entstanden in den Grenzgebieten, dort, wo Wim Wenders Weite in Deutschland fand (er jedoch hatte dabei John Ford im Kopf - der 'Spiegel‘ den träumenden Friedrich Barbarossa). Die Bilder sind wie Pausenbilder zwischen die einzelnen Features geschnitten, doch auch in ihnen gibt es eine Dramaturgie. Das Grenzland füllt sich, eine wehende Fahne, Krähen auf einem Stromkabel, zwei NVA-Leute, dann der Reichstag und der Fernsehturm - bis der ganze Ansichtskartenmist wieder wert erscheint, Oberstüfler in die Kontemplation zu treiben. Romantische Motive, romantische Musik, dazu das Datum: Das Ewige und das Zeitliche in einen Zusammenhang gebracht.

Fünf Wochen im Herbst

'Spiegel TV', Hamburg 1990,

97 Min.

„Ode to Joy

and Freedom“

„Written and directed by Beate Schubert“ - was heißt, daß Beate Schubert vom Kino träumt und sich nach vier Wochen Dunkelheit im Schneideraum einbildet, die Aufnahmen, die sie da montiert, entstammen ihrer Inszenierung. Und natürlich, daß für die EB-Akkuleuchten-Fernsehseilschaften das Kino immer noch der Ort für eine anständige Mythen- und Legendenbildung ist.

Man sollte Beate Schubert den ganzen Ode...-Film um die Ohren schlagen, bis die ganz rot sind, und dazu noch den Family of Man-Essay von Barthes und dann noch eine richtig gute Kaderschule zwangseinweisen, die sich „Moral und Medien“ o.ä. nennt.

Alle Schweinereien der Dumpf-Zensur sind hier versammelt. Dokumentationsmaterial vom 17.6.1953, das wahrscheinlich stumm war, ist mit irgendeiner Panikatmo unterlegt worden. Dabei haben sie sich wahrscheinlich im Geräuscharchiv vergriffen, und man hört im Hintergrund eine amerikanische Polizeisirene. Der Deutschland-Chor vor dem Schöneberger Rathaus ist von flinken Tontechnikern aus guter Filterschule seiner Gegendemonstration beraubt.

Das Video wird von der Musik diktiert - so auch zwangsläufig das erste Bild: Ein Dirigent erhebt den Taktstock, und mit dem ersten Akkord läuft das Bildmaterial vom 9.11.89, Grenzübergang Bornholmer Straße, ab. In Zeitlupe liegen sich Menschen in den Armen, Tränen, Sektkorken und darunter, darüber und dazwischen die Musik.

Wenn die DDRler ihr Begrüßungsgeld abgegriffen haben und shopping machen, ändert sich der Sound. „Art of Noise“ unter die clipähnlichen Bilder, höhere Schnittfrequenz und Rockel -Zooms beim Erhaschen von Schokolade und einem 9.90-DM -Walkman. Der Editor des SFB spielt auf seinen Tasten wie ein virtuoser Ladendetektiv auf seiner Monitorüberwachungswand.

Dann gibt es Imagine von John Lennon (wie bei Killing Fields), dazu wieder Zeitlupe, obszöne Nahaufnahmen Küssender, Weinender, Schreiender. Mit diesem Song hätte man aus der Hinrichtung Ceausescus eine Inszenierung „Marie -Antoinette, die unglückliche Kaiserin“ hingekriegt.

Der englische Kommentar ist oral wie die rosarote Zunge meines Englischlehrers beim Oxford-tieaytsch. Und selbst die Originalstimme einer weinenden Frau vor dem Brandenburger Tor wird simultan und nachempfunden übersetzt. Die Kommentatorin schluchzt.

Ode to Joy and Freedom

SFB/NDR, Berlin 1990, 54 Min.

„Freiheit kennt keine Grenzen“

Ein Video aus dubiosem Verlag - man könnte annehmen, daß da ein paar Bhagwan-Abspringer ihre schnellen Finger im Spiel hatten. Das Video ist ganz ärmlich, nur gemafreies Material, kümmerlicher Ton, die ganze Berliner Geschichte wie auf Watte.

Claudia Mielke und Gaby Jenk zeichnen verantwortlich. Im beiliegenden Info-Blatt wird letztere als bekannte Filmemacherin bezeichnet, die sich durch die beiden TV -Produktionen Terroristenmütter und Kindsmörderinnen einen Namen gemacht hat (vielleicht ja ein Film). Das Video beginnt auch ganz seltsam: „Berlin, Sonntag, 25.5., 2 Uhr 41, ein normaler Tag...“, und man glaubt, daß jetzt Aktenzeichen XY losgeht („Gaby Schuster, Verkäuferin, geht wie jeden Tag zur Arbeit, ihr fällt nicht auf...“). Der XY-Kommentar zieht sich durch das ganze Video. Am Ende dann der Neujahrslauf mit Zeitlupe und Song Flames of Freedom (erhältlich auch als CD).

Freiheit kennt keine Grenzen

Dominion GmbH, Karben 1990,

50 Min.

„Der Weg zur

Einheit“

Ein Video, das etwas später auf den Markt kam und deshalb noch das Frühjahr '90 erfaßt. Auf der Kassettenhülle ist Hajo Friedrichs von den Tagesthemen zu sehen, so, wie ihn sich unsere Mütter wünschen: als Lufthansa-Kapitän mit Seidentuch in der Rocktasche vor einer respektvoll -distanzierten Menschenmenge am Brandenburger Tor. Im Video selbst wird er dann nur per Bluebox in die Ereignisse geholt - seine Stimme jedoch ist allgegenwärtig.

Die Grundidee des Films ist das Porträt des Volkes Israel, diesmal gespielt vom deutschen Volk, wie es lebte, litt und doch voller Überlebensphantasie war während der Jahrzehnte der Trennung. Der Passierschein zum Weihnachtsfest '63: Über neonbeleuchtete Grenzübergänge (verschneit) drückt sich das Volk unter schweren Wintermänteln und Saxophonsoli. Der Schlußsatz: „18.3. - in der DDR beginnt eine neue Zeit. Das Brandenburger Tor wird restauriert, die Baugerüste stehen schon.“

Der Weg zur Einheit

Warner Home Movie/WDR,

Hamburg 1990, 60 Min.

„Geburt einer Demokratie“

Dieses Videoband aus der DDR ist Teil einer größeren Kassette, die ein Mauerstück, eine Sonderbriefmarke, eine Zeitdokumentation und eine Musikkassette enthält - alles zusammen für 99 DM. Man könnte meinen, die Kassette wäre die Abschlußarbeit des Seminars „Das ABC der freien Marktwirtschaft“ an der Universität Halle. Auch das Verlagsimpressum sieht dementsprechend aus: Quintessenz Verlags-GmbH Berlin - Chicago - London - Sao Paulo - Tokyo. Mehr bekommt auch eine westliche Parfümmarke nicht zustande.

Die DDR als ein Land der tausend Gegensätze. Zwar wurde gute antifaschistische Arbeit geleistet, trotzdem wurde das Volk entmündigt. Zwar wurde hier eine große, international anerkannte Industrie aufgebaut, trotzdem blieben die Läden leer. Aus dem Film spricht der verzweifelte Versuch, die DDR zu bewahren, zumindest als widersprüchliche, einen kleinen Erinnerungsspeicher gegen die Fußnote der Weltgeschichte zu errichten. Eine schöne Passage: „Wahnsinn. Wie oft hörte man in diesen Tagen dieses Wort...“ Und zu sehen sind Bilder von religiösen Scharlatanen, die vor der geöffneten Mauer wie Jungfrauen im Regen beteten. Der matschige Potsdamer Platz sieht aus wie eine Goldgräberstadt, in der sich Wunderdoktoren, fahrende Bordelle und religiöse Eiferer treffen. Aber dann gibt es die Danksagung an den Verlag „Volk und Gesundheit“, und somit steht der Wahnsinn für den Westen, und der schöne Moment war vorbei.

Die Schwierigkeit für die Gefühls- und Ereigniserzeuger liegt offensichtlich darin, daß die Bilder vom Bau der Mauer (der flüchtende Soldat, die Frau beim Sprung aus dem dritten Stock eines Mietshauses) die dramatischeren sind.

Die Geschehnisse des letzten Herbstes zielten auf den Bildschirm - dort, wo eine Akkuleuchte erstrahlte, drängten sich die Gesichter in den Lichtkegel. Die Wiedervereinigung sieht aus wie das Abschlußfest der Stadtranderholung, obwohl die Funktionäre des elektronischen Bildes wie wild versuchen, das Großartige in ihr Material zu re-injizieren. Aber war es nicht so, um zum Sport zurückzukehren, daß man während der Fußball-Weltmeisterschaft täglich las und sah von deutschen Helden, von Toren und Jubel in Zeitlupe mit Songs und daß heute doch niemand sagen kann, wer eigentlich auf dem Feld gestanden hat?

Nie sieht man in den Videos die Geldwechsler (nur in historischen Aufnahmen), die Spekulanten, die Schwierigkeit, das Wort „Joint Venture“ auszusprechen, überhaupt die Anstrengung der Menschen, mit zusammengebrochenen Worthülsen einen zerfallenden Lebensrhythmus zu bezeichnen.

Im 'Spiegel'-Video gab es eine schöne Szene zu sehen: Ein Paar drückt sich letzten Oktober vor der amerikanischen Botschaft in Ost-Berlin herum, da öffnet sich an deren Rückwand die Tür zur Küche, jemand stellt Abfälle heraus, und das Paar rennt auf die Tür zu. Kurz bevor sie diese erreichen, wird sie ihnen vor der Nase zugeschlagen; die beiden rütteln und schütteln, und dann haben sie plötzlich die Klinke in der Hand. Enttäuscht blicken sie auf zur Kamera und dann, ganz am Ende, müssen sie doch lachen.

Geburt einer Demokratie

Quintessenz-Verlag, Berlin 1990, 60 Min.