AN DER SEIDENSTRASSE

■ Die Usbekische Sowjetrepublik zwischen Tradition und Moderne

Die Usbekische Sowjetrepublik

zwischen Tradition und Moderne

VON ANNETTE LAUER

„Wir sind keine Extremisten!“ Mit diesen Worten in fast akzentfreiem Deutsch kommen drei junge Männer aus der Dunkelheit auf uns zugeschossen. „Wir wollen mit Euch ein bißchen sprechen üben, Ihr kommt doch aus Deutschland?“ Etwas verlegen stellen sie sich vor: Roman, Gleb, Michail, Germanistikstudenten aus Taschkent, Russen. Wir stehen auf dem öden Leninplatz der Stadt, schnell entwickelt sich ein lebhaftes Gespräch über Schulen, Studium. Sie lernen 24 Stunden Deutsch pro Woche, lesen im Unterricht Zeitungen aus Österreich, der DDR und seit kurzem auch aus der BRD: „Man schreibt jetzt viel interessanter als früher!“

In den Grundschulen werden Russen und Usbeken getrennt unterrichtet. Zunehmend sträuben sich die Usbeken, Russisch zu lernen, vor allem die Alten sehen darin eine Verdrängung ihrer nationalen Kultur. Kein Zweifel, die Stimmung in der Bevölkerung Usbekistans (66 Prozent Usbeken, 13 Prozent Russen, der Rest verteilt sich gleichmäßig auf Tadschiken, Kasachen, Tataren) ist anti-russisch, was die Studenten deutlich zu spüren bekommen: „Selbst wenn wir die besseren Noten haben, bekommen die Usbeken die Arbeitsplätze“. Ihre Traumberufe sind Dolmetscher oder Reiseleiter, unverkennbar der Wunsch, aus den bedrückenden Verhältnissen wegzukommen. Auf unsere Fragen zur aktuellen Politik reagieren sie ungehalten: „Probleme, immer nur Probleme, Sie wissen doch was im Fergana-Becken (Grenzkonflikt zwischen Kirgisen und Usbeken, A.L.) passiert... Wir wollen besser leben. Wenn man gut lebt, interessiert man sich nicht mehr für Politik.“ Und Gorbatschow? „Wir lieben ihn!“ beteuert Gleb fast mit Inbrunst, aber sonst haben sie genug. Mir dämmert, „Politik“ ist für sie nur noch ein negativer Begriff: „Wir sind keine Extremisten“ - Deutsch lernen, das ist wenigstens etwas Solides.

Sowjetische Reißbrettstadt

Taschkent, mit etwa 2 Millionen Einwohnern viertgrößte Stadt der Sowjetunion, ist eine moderne Stadt, die sich über ein riesiges Areal erstreckt. Große Teile der Stadt mußten nach dem Erdbeben 1966 wiederaufgebaut werden. Ein bizarrer Versuch Tradition und Moderne architektonisch zu verbinden: riesige Neubausiedlungen, deren Balkons und Fronten mit Gitterwänden aus Beton geschmückt sind - in Anlehnung an die in der islamischen Baukunst beliebten Parandscha, den hölzernen Gitterfenstern. Bemalte oder gekachelte Ornamente beleben die Fassaden - steinerne Teppiche.

Verstreut liegen die Überreste der Altstadt: flache Lehmbauten, Haus an Haus, ohne Fenster zur Straße. Das Leben spielt sich hier in den Innenhöfen ab. In jedem Hof steht ein Sufa, ein erhöhtes Holzpodest, mit einer niedrigen Balustrade eingezäunt, meistens türkis gestrichen, auf dem gegessen, gespielt und im Sommer auch geschlafen wird.

Der Besucher verliert schnell in dieser typisch sowjetischen Reißbrettstadt die Orientierung. Ein urbanes Zentrum, markante Punkte, die das historische Wachstum der Stadt dokumentieren, fehlen.

Handelsknoten

und Flußoase

Ganz anders Samarkand. Umrahmt von Bergketten, mit über 2.500 Jahren eine der ältesten Städte der Welt, Handelsknoten der Seidenstraße, liegt sie flach hingestreckt in der Flußoase des Serafschan-Tals. Schon von weitem erkennt man die historischen Bauwerke. Auf einem Hügel vor der Altstadt, mitten in einem muslimischen Friedhof, schweigen die lehmfarbenen Kuppeln der Totenstadt Schah-i -Sinda. Im Zentrum, aus der Blütezeit Samarkands (14./15. Jahrhundert), der Registan-Platz mit drei großen Medresen, einst Handels- und Richtplatz, und die Überreste der riesigen Moschee Bibi-Chanym. Unerschöpflich ist die Pracht der farbigen Ornamente: Labyrinthe, Blumen, Sterne, Ranken, dazwischen die arabesken kufischen Schriftzeichen.

Auf dem nahegelegenen Basar wimmelt es von Menschen: Männer mit ihrer Tjubeteika, einem bestickten, viereckigen Käppchen, Frauen in bunten Seidenkleidern, explosive, abstrakte Muster, darunter Pumphosen, dazu wattierte, mit Goldfäden durchsetzte Jacken in schrillen Farben und leuchtend blaue, gelbe oder schwarze Kopftücher mit großen Rosen. In einer offenen Halle werden in langen Reihen, zu kleinen Bergen aufgetürmt, Käse, Gemüse, Nüsse und viel getrocknetes Obst verkauft. Granatäpfel sind liebevoll zu kleinen Pyramiden aufgebaut. Wie kostbar frisches Obst ist, erkennt man an der liebevollen Behandlung: immer wieder werden einzelne Früchte aus den Türmchen genommen und gerieben, bis sie glänzen. Fleisch wird nur selten angeboten. Auf dem staubigen Platz vor der Bazarhalle verkaufen alte Frauen Brote, Gebäck, Gewürze und Kräuter. Alte, von Wind und Wetter gegerbte, ländliche Gesichter mit vielen Fältchen.

Man spürt, daß es hier noch wenig Tourismus gibt. Niemand heftet sich penetrant an unsere Fersen oder versucht, uns auszunehmen. Allenfalls Verwunderung über Frauen, die Hosen und kurze Haare tragen. Der Fremde ist noch der Gast, der freundliche Neugier weckt. Trotz des Ramadans sehen wir niemanden fasten. Vor dem Teehaus werden in einer riesigen Pfanne Fische gebraten, die Rauchschwaden vernebeln die ganze Veranda. Ehe wir uns versehen, haben wir einen Teller mit Fischen vor uns - Geschenk, signalisiert die Geste des Kochs.

Doch daß das Leben in Samarkand keine orientalische Idylle ist, wird spätestens bei einer Diskussion mit usbekischen Studenten der örtlichen Hochschule für Handel klar. Auch hier ist die Stimmung moskaufeindlich. „Usbekistan“, so erzählen sie uns, „ist in der UdSSR per Plandiktat Hauptproduzent von Baumwolle. Wir verkaufen sie billig in die baltischen Staaten, warum können wir sie nicht selbst verarbeiten? Warum können wir nicht, statt nur Baumwolle, auch mehr Obst und Gemüse anbauen, um die Versorgung hier zu verbessern?“ Vor allem die zu niedrigen Preise, die der Staat den Kolchosen zahlt, um damit die Lebensmittelsubventionen in den Städten zu finanzieren, erregen die Gemüter. Sie wollen allein entscheiden, mit wem sie Handel treiben. Afghanistan, Indien liegen vor der Tür. „Wir schaffen es auch allein, wir sind ein reiches Land, wir haben Bodenschätze, Erdgas...“ Marktwirtschaft ist das Zauberwort, doch wie die Umgestaltung konkret verlaufen soll, scheint niemand zu wissen. „Wir studieren jetzt wirtschaftliches Rechnen“, meint die Dozentin zum Abschied, „bei Ihnen sagt man, glaube ich, Buchführung.“

Mit dem Schlafwagen fahren wir von Samarkand nach Buchara. Langsam zuckelt der Zug durch die Nacht. Wir kommen mit Alexander, dem Dolmetscher, ins Gespräch. Er hat während der Ausbildung Westeuropa bereist und länger in Straßburg und Spanien gearbeitet. Im Rahmen geplanter Gesetze, die Sowjetbürgern Reisen ins westliche Ausland gestatten, will er für ein paar Monate nach Deutschland kommen, um Geld zu verdienen. Er fragt nach Arbeitsmöglichkeiten und Papieren. „Für so einen Mann wie mich - sechs Sprachen perfekt - muß es doch etwas geben!“ Warum gerade nach Deutschland, wollen wir wissen. „Spanien ist furchtbar schmutzig, und letzte Woche hatte ich eine italienische Reisegruppe zu betreuen, die war einfach zu laut - da habe ich mich schon richtig auf meine lieben Deutschen gefreut“, erzählt er nicht ohne einen Anflug von Ironie.

Von einem monatlichen Durchschnittseinkommen ein Paar Schuhe, geschweige einen Wintermantel zu kaufen, ist unmöglich. „Wir müssen für alles lange sparen, bei Ihnen hat jeder Arbeiter monatlich genug übrig. Das Geld reicht kaum für eine Familie, deshalb haben viele junge Paare in Moskau höchstens ein Kind. Nur noch die Südländer (gemeint sind die in Moskau lebenden Arbeiter aus den südlichen Republiken) gründen große Familien - das ist schon fast wie bei Ihnen mit den Ausländern.“ Aber bleiben will er: „Ich bin Russe, meine Freunde sind hier.“

Ich ziehe die Rollos im Abteil hoch. In der aufgehenden Sonne fliegt die Steppe vorbei, endlos, menschenleer. Wir nähern uns dem Stadtrand von Buchara, keine Spur von den Zeugnissen der großen Vergangenheit dieser Stadt. Halbfertige Fabriken, Gerippe von Großbaustellen, verstreutes Baumaterial, Eisenteile, die vor sich hinrosten, dazwischen kleine Felder und Hütten. Die Menschen verlieren sich zwischen den Objekten in der Ebene - eine Industrielandschaft von surrealer Häßlichkeit, ein verlassenes Schlachtfeld.

Archaische Größe

und erloschenes Leben

Unser Hotel in Buchara, ein Neubau, ist ein ehemaliges Parteihotel. Man merkt es sofort an der Einrichtung: Teppiche, Holztüren, Einbauschränke, funktionierende sanitäre Anlagen. Doch auch hier Spuren der von der Materialknappheit erzwungenen Improvisationskunst: die Gardinen sind mit Büroklammern befestigt, ein Loch in der Fensterscheibe mit Verbandspflaster zugeklebt, die Türen schließen erst nach mehrmaligem Versuch, durch ein notdürftig geflicktes Loch in der Balkondecke frißt sich die Feuchtigkeit. Auch neuere Bauten sind so ausgeführt, daß sie in ein paar Jahren überholungsbedürftig sind. So hat hier selbst das Neue stets den typischen Charme des Gestrigen. Nach 14 Tage Reise durch dieses Land beginnen sich die Maßstäbe zu verschieben, wir empfinden dieses Hotel als komfortabel.

Die Damen an der Rezeption und die Etagenfrau lassen gleich erkennen, daß sie an Kleidungsstücken interessiert sind. Unauffällig gehen für „nur“ 37 Rubel Schminke, Blusen und Hosen weg. Westliche Kleidung und Make-up sind begehrt, egal ob von einer Moskauerin oder einer traditionsbewußten Usbekin.

Der historische Stadtkern von Buchara bildet ein geschlossenes, gut erhaltenes Ensemble aus Kultstätten Moscheen, Medresen, Minarette - und den Gewölben der ehemaligen Basare, den Handelszentren der Seidenstraße. Auffällig sind das Mausoleum der Sassaniden, eines der ältesten Bauten Zentralasiens, und die gedrungenen Kuppeln der Karawansereien, Bauwerke aus Lehm und ungebrannten Ziegeln. Die Ziegel, flach, eckig oder schräg gemauert, bilden Ton in Ton plastische Muster und Friese von ruhiger, einfacher Schönheit, die je nach Sonneneinfall das Mauerwerk in verschiedenen Farben leuchten lassen. Später, ab dem 12.Jahrhundert, wurden buntglasierte Kacheln als Dekor für die Ornamente verwendet. Heute haben die religiösen Stätten keine Funktion mehr, in den Karawansereien überleben nur noch ein paar armselige Läden. In der staubigen Mittagshitze werfen die monumentalen Bauten scharfe Schatten, neben dem Eindruck archaischer Größe ein Gefühl von Verlassenheit, erloschenem Leben.

In einem Dorf bei Buchara gibt es ein Fest. Ein junger Mann ist von der Armee zurückgekehrt. Vier Lehmhäuser bilden einen rechteckigen Hof, der Heimkehrer steht am Eingang und begrüßt die Gäste. Hinter den Häusern ein kleiner Garten, in dem Gemüse für den Eigenbedarf angebaut wird. Im Sommer arbeiten Männer und Frauen auf den Baumwollfeldern. Es reicht gerade für das Nötigste. In einem Holzverschlag ein dürrer Esel und ein mageres Kälbchen. Getrennt von Frauen und Kindern sitzen die Männer im Freien an langen schmalen Tischen und essen mit Holzlöffeln eine Suppe, die in der Mitte des Hofes in einem riesigen Kessel gekocht wird - eine Mischung aus Reis, Hirse und ein paar Fleischbrocken. Auch wir bekommen unsere Schale Suppe, dazu Fladenbrot, Bonbons und winzige unreife Aprikosen, die man lutscht.

Nach dem Essen besuchen wir die Frauen, die in einem der Häuser feiern. Wir betreten einen kleinen dunklen Raum und sind geblendet von Farben: auf dem Boden rote, gelbe, blaue Decken, darauf im Schneidersitz die Frauen, bunte Stoffberge. Eine Woge von Mütterlichkeit und Gastfreundschaft empfängt uns. Drei Generationen sind hier versammelt, man spürt welche soziale Achtung vor allem die älteren Frauen genießen. Einen Moment lang sind wir tief verunsichert, ob wir europäische emanzipationsgeprüfte Frauen wirklich freier und glücklicher leben. Mit der soziologischen Diagnose „Rolle der Frau in der orientalischen Großfamilie“ läßt sich, was wir hier sehen und empfinden, jedenfalls nicht einfach abtun.

Auf dem Rückweg begegnen wir in der Altstadt einer Gruppe Schulmädchen, große weiße Schleifen im Haar, dunkelbraune Schuluniformen. Sie wollen unbedingt ein Foto haben. Adressen werden ausgetauscht. Beschenkt mit einem Taschenmesser und einem abgekauten Kugelschreiber wollen wir gehen, als zwei der Mädchen plötzlich wegrennen. Atemlos, glückstrahlend kommen sie mit einem Fladenbrot zurück: „Geschenk!“ Was soll man da noch sagen?