Für Ibrahim Böhme

■ Ein Nachtrag zum Scheitern des Wahlgesetzes in der Volkskammer

Geflügelte Worte hat die deutsche Vereinigung noch nicht zustande gebracht. Aber ein Satz kommt jetzt für mich in die engere Wahl. Jens Reich vom Bündnis 90 verließ Mittwoch nacht in offensichtlich schlechter Stimmung die Volkskammer. „Ich habe die Schnauze voll“, erklärte er der 'Bild -Zeitung‘. Die konnte es verstehen, denn abgesehen vom Rüpelspiel der Volkskammer war er ohnehin Gegner des undemokratischen Wahlgesetzes, das zur Verhandlung stand. Doch für 'Bild‘ stand Höheres auf dem Spiel: „Aber es geht um Deutschland, Herr Reich...“ Wie wär's damit: Aber es geht um Deutschland, Herr Reich. Das ist doch so sprichwörtlich wie „Der Mohr kann gehen!“. Für Sprachhistoriker wäre dann auch noch in späteren Jahren eine Spur für die verschwundene Bürgerrechtsbewegung gelegt.

Doch viel eher hätte man nach jener Volkskammersitzung sagen müssen: Aber es geht um Deutschland, Herr Böhme! Ibrahim Böhme, Gründervater der Ost-SPD, hatte sich einzig und allein deswegen der Stimme enthalten, weil er den Versuch, Abgeordnete nachts herbeizutrommeln, um eine Abstimmung zu gewinnen, undemokratisch fand - und hatte damit das Wahlgesetz zu Fall gebracht. Jetzt nennt ihn sein Fraktionsvorsitzender Schröder in der 'Bild-Zeitung‘ ein „Sicherheitsrisiko“. Recht geschieht ihm. Da sollte er von Schröder lernen, dem Philosophen und Ontologen. Angesichts der Macht des Seins, das weiß er von Heidegger, darf man nicht pingelig sein mit der Moral. Schon gar nicht, wenn es ums deutsche Vereint-Sein geht. Schröder selbst schrieb zwar noch in Heft 4 der 'Zeitschrift für Philosophie‘ in diesem Jahr von der „Bereitschaft, die Andersartigkeit der Überzeugungen anderer zu ertragen“. Aber was schert den Ontologen die eigene Überzeugung angesichts des Seins. Schröder hat die ontologische Differenz für sich entdeckt und weiß zwischen „Wahrheitsfrage“ (ebd.) und brutalem Opportunismus zu unterscheiden.

Obwohl es um Deutschland ging, hat Ibrahim Böhme die Ehre der Volkskammer gerettet und der Demokratie den Vorzug gegeben, bevor diese Institution verschwindet, im Namen von Deutschland. Ibrahim Böhme ist ein Sicherheitsrisiko, und wir brauchen solche Sicherheitsrisiken im vereinten Deutschland; Menschen also, die für die Konsensmacher in den Hinterzimmern unberechenbar sind und die Fraktionszwänge nicht als die reine Lehre begreifen. Die Tollkühnheit der Böhmes, sich auf Selbstverständlichkeiten der Demokratie zu besinnen, läßt hoffen, daß die herrschende Vollnarkose der politischen Moral jetzt allmählich nachläßt.

Klaus Hartung