Auf Mutters gutem Tischtuch

■ Die PGH Glühende Zukunft schmückt die Mauer

taz-Cartonist Fickelscherer erinnert sich an kalte Novembernächte im Dienst der Revolution und an den Tag, an dem er der Mauer ihre Unschuld raubte.

Als die Tachonadel auf 40 zeigte, nahm die Fliehkraft ungeahnte Dimensionen an; da wurde es gefährlich.

Im heißen Auswanderersommer schenkte mir ein Bekannter einen Stapel sozialistische Jugendlektüre aus Ulbrichts strammen Sechzigern. Unter anderem fand ich in einem Heft einen Artikel zum ersten Jahr des Schutzwalls. Zu Besuch in einem Abschnitt der 1. Grenzbrigade (B). Da sprach ein ausgezeichneter Wachgefreiter an „einem Tag wie jeder andere“ schon von Routine, und ließ derweil jeden friedliebenden Westdeutschen die Bastion passieren. Er damals und ich Jahre später, hielten die Mauer für solide. Welch ein Irrtum. Plötzlich öffneten sich Türen und Tore auch für die ebenfalls friedliebenden Ostdeutschen und unsere Straßenkämpfer strömten übers Frischgeharkte ins nachbarstädtische Reservat. In dieser putschrüchigen Zeit verließ auch die gerade erst initiierte PGH GLÜHENDE ZUKUNFT eine lose, aber engagierte Künstlergruppe, den Schutz der Dunkelheit.

Am Vorabend des 4. November, erinnert sei noch einmal an Ostberlins größten unbefohlenen Volksauflauf seit dem 17. Juni '53, druckten wir motivierende Grafiken, die wir tags darauf verkauften! Der Erlös sollte uns zur Realisierung einer nicht vorhersehbaren Aktion dienen. Als dann auf Anraten der Massen die Notschleusen aufgerissen wurden, fanden sich am sagenumwobenen Potsdamer Platz Künstler ein, um in Gegenwart großen Publikums Mutters bestes Tischtuch zu beflecken. Doch über Nacht kam's in die Wäsche. Grenzer tünchten den Wall wieder weiß. Da schlug die GLÜHENDE ZUKUNFT zu. Waren wir auch nicht die ersten, die sich ans volkseigene Tabu wagten, waren wir doch - aber nicht vorsätzlich - die ersten, denen es gelang, sich auf der demokratischen Seite zu verewigen. Hier muß gesagt werden, daß wir mit dem Zensurakt, der die Werke unserer Kollegen tilgte, in keinerlei Verbindung standen. Etwa um die Sensation in alleinigen Anspruch zu nehmen. Wir hatten uns für ein Stück keusche Staatswand in der sicherlich unspektakulären aber dennoch hochgradig mauerfluchtbelasteten Eberswalder Straße entschieden. Da uns kein Sponsor bedachte, gingen wir Farbe und Utensilien mit der Schubkarre organiseren.

Nach der Installierung unseres Firmenzeichens legten wir kurzum Hand an die wirklich hervorragende Grundierung. Daran zurückdenkend, daß ich an dieser Stelle am 7. Oktober die Kampfgruppe aufziehen sah, war es ein seltsames Gefühl, eine Leiter an die Mauer zu lehnen. In Gesellschaft ihrer verunsicherten Wächter, die ihrer Autorität nachweinten.

Dann ein Blick über die Zinnen. Am Horizont wälzte sich ein fremdes Heer gen Wedding, um Bunte Teller zu füllen. Ab und zu wehte mir ein Windhauch welkes Bananenlaub ins Gesicht. Durch die Hast so gut wie ohne Konzept, beschlossen wir, den Passanten des Niemandslandes visuellen Proviant mit auf den Weg zu geben. Einige dankten es uns mit heißem Getränk. Nebenan wütete ein Bagger, Soldaten errichteten eine Wagenburg. Mitunter erschien mal einer, um uns über die Schulter zu schauen, in der Zigarettenpause. Ein Major strahlte vor Besonnenheit und mahnte uns zur Eile, da man anderen Orts schon begann, auf den Putz zu hauen. Polizei kam und ging.

Der Fries wuchs: Egon K. lachte zum letzten Mal, Havelobst kämpfte mit Südfrüchten, der halbe Bär schlug sich mit seiner besseren Hälfte, Egon O. sah Millionen... Doch der Kurs stand 1:10. Als sich der Tütenpotpourri nach Hause trollte, hinterließen wir bewachte Kunst an der Schwelle zur gesamtdeutschen Weihnacht.

H.E.Fickelscherer