Death Valley DDR

■ Das Mauersyndrom aus westlicher Sicht

Im Jahre 1979 besuchte uns Lenard in Berlin. Lenard war ein schwarzafrikanischer Bauer, ein einfacher Mann, der viel vom Bananenanbau und vom Leben verstand. Wir hatten ihn in einem tansanischen Landprojekt kennengelernt und auf unsere Kosten eingeladen. Er litt furchtbar unter dem Lärm der Metropole, vermißte seine Felder und flüchtete vor den Autos über die Straße wie ein Reh. Eines Tages führte ich ihn auf den Aussichtsturm an der Bernauer Straße, auf dem man so deutlich über die Mauer sehen konnte. Er sah den Stacheldraht und die Flutlichter, und für ihn war ganz klar: „Die Menschen werden hier gehalten wie eine Viehherde. Das ist unwürdig. Das kann nie und nimmer Sozialismus sein.“

Was Lenard sagte, fand ich sehr überzeugend und brachte mich doch nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Tansania oder Nicaragua - das waren für mich die Orte, wo um sozialistische Utopien gekämpft wurde, aber doch nicht hier. Die Mauer war schlimm und Punkt.

Hinter der Mauer hörte mein Denken auf. Dahinter begann unendliche Langeweile, abgehakt. Das Leben, das echte, hätte dort niemals überleben können. Ich gehöre nun mal zu der Generation, für die es immer woanders war und immer jenseits des Meeres, in dessen Nähe man sich gerade befand. Das Leben, dieses echte, prickelnde, kämpferische, knallende, konnte sowieso unmöglich im Deutschen gedeihen. Und in der Zone schon gar nicht.

Für die Generation der kämpfenden schwäbischen Landjugend, die sich in den siebziger Jahren in Kreuzberg oder Schöneberg niederließ und der auch ich angehörte, endete die Realität genau einen Millimeter hinter der Mauer. Die DDR existierte gar nicht. Sie schaffte es jedenfalls nicht, als mehr anerkannt zu werden denn eine Art graues Death Valley, wo es zwar keinen Wüstensand, aber dafür um so mehr Nebel und Regen- oder Schneematsch gab. Die DDR, das war im allerhöchsten Fall schlechtes Wetter und schlechtgelaunte Grenzer. Daß es dort immer regnete, war im Grunde nur eine weitere Bestätigung dafür, daß dieses Land politisch nichts taugte.

Im nachhinein gesehen war es schon sehr seltsam: Wir predigten die Veränderbarkeit aller Verhältnisse und gingen doch davon aus, daß anderthalb Kilometer vor unserer Haustür die Zustände bleideutsch bis in die Ewigkeit blieben. Das da drüben war einfach gräulich, und die waren aber auch selber schuld und Schluß.

Die DDR war eine leere Fläche für unsere Gefühle. Wir beließen sie aber auch deshalb in emotionaler Leere, weil sie von den anderen besetzt war - von der Ekelfraktion, mit der wir nichts zu tun haben wollen. Deutschland, Nation, Wiedervereinigung - was für gefriergetrocknetes Politgebäck. Das finde ich übrigens immer noch, auch wenn ich sonst unsere Ignoranz von damals bedaure.

Ute Scheub