Oper nach dem Umbruch

 ■ Probleme des Musiktheaters in der Tschechoslowakei und

Ungarn

Von Frieder Reininghaus

Irgendwo bei Komarom muß die geographische Mitte Europas liegen, kurz vorm großen Knie der Donau zwischen Bratislava und Budapest. Dort jedenfalls schneidet sich die Luftlinie zwischen Amsterdam und Istanbul mit der zwischen Ural und Cap Sao Vicente, dem westlichsten Zipfel Portugals. Aber ausreichend eingerichtet war man auf die zentrale Funktion an der Brücke im ehemaligen Komorn nicht. Als noch der Visumzwang das Weiterreisen behinderte, jeder also für jeden Grenzübertritt zwei Paßbilder benötigte, da war in diesem gottverlassenen Nest kein Fotoautomat zu finden. Ein junger Wegelagerer führte, mit seinem Auto voranbrausend, in eine der realsozialistischen Trabantenstädte, zum allerletzten Wohnblock hinter der Nameste 1. Maja, zum siebten Stock und weckte Herrn Petrovic, welcher der Photograph sei. Und tatsächlich erhob er sich, ich stand schon neben ihm, von seinem Sofa; herrschte die Frau in der Küche an und ließ sich eine Kamera bringen; bugsierte mich vor ein Rollo und drückte zweimal ab. Die Frau verschwand in der Küche zur Entwicklung. Aber es tat sich nichts: Bratkartoffeldampf erfüllte das traute Heim, und mehr mit Zeichensprache als auf Slowakisch wurde mir beschieden, die aufgehäufte Portion zu verzehren; der Hausherr ging mit gutem Beispiel voran, aber über seinem Haupt hingen je sieben scharfgeschliffene Krummsäbel, Seitengewehre, Armeedolche (einer mußte unlängst abgenommen worden sein, verriet die verschossene Tapete). In Erwägung, daß ich womöglich der erste nicht war, der hier in der Falle saß, wollte nicht einmal der Schnaps schmecken. Für zehn Westmark kaufte ich mich frei.

Die Erleichterung läßt sich verstehen: endlich in Budapest im Operahaz, einem der schönsten dieser Erde. Gegeben wird Tannhäuser, in deutsch und in einer vom sozialistischen Ornamentalismus inspirierten Felsen- oder Wartburglandschaft. Die in so hohen Tönen besungene Frau Venus - ein Goldfaßl. Von dieser Art angestaubter Inszenierung wolle man nun endlich wegkommen, versichert Andras Kürthy (37), selbst Regisseur und seit kurzem Generalsekretär der Budapester Oper: „Ich denke, daß wir unser System ändern müssen, denn wir praktizieren ein Modell wie im 19. Jahrhundert.“ Das Repertoire umfasse 60 Opern und 30 Ballett-Produktionen, in zwei Häusern über 500 Vorstellungen pro Saison. „Das ist zuviel!“ ruft der Föttikar aus. „Wir möchten jetzt ein System wie in Wien, halb Stagione- und halb Repertoire-System. Dann haben wir mehr als hundert 'Kammersänger‘, fest engagierte Solisten das macht uns auch unbeweglich. Wir möchten unsere Möglichkeiten in jeder Hinsicht erweitern, Gäste einladen gerade auch Regisseure. Dazu brauchen wir eine völlig andere Arbeitsweise. Das wird eine sehr große Veränderung.“

Vor allem braucht die Modernisierung der Oper und ihre Annäherung an die weiter westlich praktizierten Standards mehr Geld. „Die Honorare sind bei uns ganz niedrig“, erläutert Kürthy; „und wenn unsere Sänger, was häufig der Fall ist, an ausländische Opernhäuser eingeladen werden, dann müssen wir ihnen immer Urlaub geben und selber sehen, wie wir zurechtkommen - sonst gehen sie eben ganz“. Mittelbeschaffung durch Sponsoring habe zwar begonnen, liege aber noch ganz in den Anfängen. „Wir brauchen sehr viel Geld, denn sonst können wir nicht weiter. Die politischen Möglichkeiten verbessern sich, aber die ökonomischen werden immer schlechter.“

Auch in Budapest verhalte sich das Opernpublikum reserviert gegenüber der musikalischen Moderne und auf lange Sicht zeichne sich nicht ab, daß ein zeitgenössisches Stück ähnlich erfolgreich sein könne wie die Repertoire-Hits. „Wir haben hier eine Boheme-Inszenierung, die 53 Jahre alt ist und seit 1937 regelmäßig gespielt wird - aber wir möchten jetzt auch Produktionen machen, die nur für eine Spielzeit bestimmt sind.“ Da biete sich Wien an. Überhaupt Wien: Das ist in jeder Hinsicht wieder Vorbild. „Wenn man die Geschichte betrachtet, dann hat Ungarn immer zu Mitteleuropa gehört, nur die letzten vier Jahrzehnte sind wir zu Osteuropa gerechnet worden. Aber das ist schon vorbei - und tausend Jahre sind mehr als vierzig.“

Prag

In Prag scheinen die Uhren des Opernbetriebs noch auf Winterzeit zu stehen. Dvorak wird in biederster Kulisse gezeigt und Tschaikowskys Spici Qrasavice im Tüllröckchen getanzt, als Reigen seliger Schwäne und möglichst auf Spitzen, zwischen Adolphe Adams Giselle und Vaclav Trojans Princ Bajaja, einem etwas modernistischerem, aber leider auch nicht ansehnlichem Ballett. Mozarts Cosi fan tutte und Figaro erscheinen in Plüschtheater-Rokoko und Verdis Don Carlos zwischen Brokatstoffen und Bratkartoffeln, Helebarden und anderen Pappwaffen. In Prag scheint die Oper, obwohl doch in der Stadt wie oben auf der Burg eine neue Zeit angebrochen ist, in der Stadttheaterwelt der fünfziger Jahre verharren zu wollen. Doch die desolate Ökonomie wird wohl auch in der tschechischen Hauptstadt den Theatermachern bald Beine machen.

Die Klage über die Müdigkeit nach diesen letzten zwanzig Jahren kehrt ebenso als Leitmotiv der Gespräche wieder wie der Hinweis auf die Zugehörigkeit zu Mitteleuropa. Ladislav Snopko, eben zum slowakischen Minister für Kultur ernannt und zuvor als Archäologe mit der Ausgrabung römischer Reste befaßt, verweist mit Stolz darauf, wie viele Künstler in der Zeit des Totalitarismus ein eigenes Profil erworben und behauptet haben. „Es gibt die hochgesteckte Erwartung, daß es dem Kulturministerium gelingt, den notwendigen Wechsel zu vollziehen - selbstverständlich darf in Zukunft nicht mehr dekretiert und dirigiert werden, sondern das, was die Künstler auf vielfältige Weise schaffen, muß gefördert werden. Um es in einer musikalischen Metapher zu sagen: das Ministerium sollte ein großes Ohr sein, damit die verschiedensten Töne im Land gehört werden; und was am besten klingt, das wird dann gefördert.“ Snopko verspricht, sich für einen sehr weitgefaßten und weitherzigen Begriff der Kultur zu engagieren, gerade auch für die Sphären, die in Deutschland zur „Alternativkultur“ gezählt werden. Unsicherheit mache sich bei den Künstlern breit, die bislang das Geschäft des „sozialistischen Realismus“ betrieben haben. Aber für diese Gruppe wird es „keinerlei Beschränkungen oder gar Verbote geben; sie können ruhig weiterarbeiten“. Freilich dürfte ihnen zur Ruhe die relative Sicherheit der Polsterung durch den kommunistischen Staat fehlen.

Snopko zeigte die Skulpturen im Hof und führte durch die bildergeschmückten Säle des Hrad: der Wechsel ist jetzt sichtbar vollzogen. „Es ist ganz selbstverständlich, daß das Kulturministerium die Oper, Museen, die Philharmonie fördert, all das, was nicht oder nicht ausschließlich kommerziell funktionieren kann. Dennoch kann eine Nationalkultur nicht ohne das leben, was unterhalb der Ebene solcher Institutionen sich tut - und gerade auch dafür muß es staatliche Förderung und Finanzierung geben.“

Eine zentrale Stelle im Musikleben des Landes nahm und nimmt der „Slovensky Hubodny Fonds“ ein. Diese Institution steuerte - und gängelte; sie vereinigte die Funktionen eines Komponistenverbandes, eines Verlags, einer Agentur, eines Archivs, des Stipendienträgers und eines Clubs auf sich. Gleich nach dem Umschwung im vergangenen Winter bestand wohl auf seiten einiger Komponisten die Neigung, dieses Unternehmen als eine der „Zwingburgen“ der alten Ära „in die Luft zu sprengen“. Dann aber setzte sich die Auffassung durch, der Fonds könne zur sozialen Absicherung der Komponisten und zu einer freizügigen Förderung der neuen Musik umgestaltet werden. Die Wünsche in dieser Richtung artikulieren sich vor dem Hintergrund, daß es den Tonsetzern mit ernstem Anspruch da unten an der Donau finanziell so schlecht wie noch nie geht. Für ihr erstes kleines Festival der neuen Musik, von den ganz jungen Komponisten initiiert, kam kein Zuschuß vom Ministerium. Die Zuwendung für die E -Musik auf der Ebene des Autorenverbandes aus den Töpfen der Popmusiker und Schlagerproduzenten wurden ebenfalls gestoppt: im ganzen Land werden Subventionen abgebaut, und warum sollte da die neue Musik weiter am Tropf hängen dürfen? Auch sie wird sich jetzt also nach dem Markt und der klein gewordenen Decke strecken müssen. „Die ganz jungen Komponisten“, erklärte Viera Polakovicova vom Fonds, hätten in den letzten Jahren „zunehmend der älteren Generation den Vorwurf gemacht, daß sie sich irgendwie angepaßt und arrangiert hat“. Manche der neuen Initiativen seien „bereits vor der Revolution geplant gewesen. Das kam vom Hunger nach wirklich zeitgenössischem Schaffen und hing mit der politischen Situation zusammen, die den einzelnen in wachsendem Maß freie Hand ließ. Das kam zusammen mit Äußerungen im Theater, auf der Straße. Immer mehr traf man Leute, die nicht zufrieden waren: also machen wir was! Das war wie ein Vulkan mit der Revolution. Sie war auf allen Ebenen vorbereitet.“

60 Kilometer

von Wien

Bratislava liegt nur 60 Kilometer östlich von Wien. Rascher und intensiver als in den Städten des Landesinneren war man dort mit den Problemen der sich öffnenden Grenze konfrontiert (so ganz offen war sie freilich bei keiner der Überquerungen: einmal stauten sich die Händler aus Polen, ein anderes mal die Hamsterkäufer aus Niederösterreich mit ihren schwarz getauschten Schillingen, dann strömten vermehrt die Flüchtlinge aus Rumänien und wurden besonders schleppend abgefertigt, oder die Spekulanten in Immobilien und technischem Gerät - und Schaulustige finden sich überall dort ein, wo auf dieser Erde ein Gedrängel entsteht). „Wenn sich die ökonomische Lage nicht bessern wird, fürchte ich, daß wir nicht alle guten Leute hier halten können“, faßt Juraj Hrubant zusammen, Baßbariton und seit der letzten Spielzeit Operndirektor in Bratislava.

Das traditionsreiche Haus, an dem Bruno Walter seine Laufbahn begann und Richard Strauss dirigierte, bemüht sich sichtbarer, hörbarer und bislang erfolgreicher als die Musiktheater in Budapest oder gar Prag um den „Anschluß“ an die im Westen vollzogenen Entwicklungen. Die Herausforderung muß, so nah an der Grenze, einfach angenommen werden. „Natürlich hängt alles von unserer Ökonomie ab - und die ist zur Zeit alles andere als gut.“ Der Staat hat die Finanzierung der Oper gedrosselt: „Früher war er sehr großzügig mit Dotationen und Subventionen, da konnten wir auch Stücke auf den Spielplan setzen, die erwartungsgemäß nicht sehr stark vom Publikum akzeptiert wurden. Im Augenblick will sich aber noch niemand so genau festlegen, wie es weitergehen soll. Dazu kommt, daß die Leute nicht mehr so häufig wie früher ins Theater gehen - das Fernsehen ist interessant geworden und bis zum letzten Jahr kamen sehr viele über ihren Betrieb oder ihre Gewerkschaft praktisch umsonst ins Theater. Das hat aufgehört.“

Juraj Hrubant befürchtet, daß einige der zehn Opernhäuser in der CFSR geschlossen werden müssen, weil sie sich ökonomisch nicht mehr halten können. Bratislava mit seinem wunderschönen Theaterbau aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat den Vorzug, daß es zu sehr günstigen Tarifen Zuschauer aus dem österreichischen Umland, selbst aus Wien anlocken kann. Die Inszenierungen werden aufgemöbelt - und mit einem von Jozef Bednarik inszenierten Gounod-Faust wurde bereits der Abschied von der alten Betulichkeit eingeläutet. Das Slowakische Nationaltheater verfügt über ein leistungsfähiges Orchester und einen Stamm guter bis vorzüglicher Sänger - darunter Jozef Kundlak und Peter Dvorsky, glänzende Tenöre. Lucia Popp hat 1963 die Königin der Nacht am Preßburger Theater, wie sie sagt, agesungen - und ist dann nach Wien geflohen. Zum Opernfest im Frühjahr 1990 kehrte sie wieder in die alte Heimat zurück und plauderte in der Loge: „Es ist schon ein sehr erhebendes Gefühl, unter diesen Umständen die Geburtsstadt wiederzusehen. Über die Grenze zu gehen, damals vor 27 Jahren, war nicht so schwer. Ich hatte Verwandte in Wien, wie alle normalen Preßburger. Aber nicht zurückzukommen, das war ein bißchen schwieriger.“