Keine Maueröffnung bei den Rams

■ Die „Los Angeles Rams“ gewannen mit 19:3 die „American Bowl 90“ gegen die „Kansas City Chiefs“ in Berlin / Der „American Football“ hat weltweite Expansionsgelüste

Aus Berlin Matti Lieske

Nichts gegen die Kansas City Chiefs, oder gar die Los Angeles Rams, aber die größte Attraktion der „American Bowl 90“ in Berlin war vor dem Spiel auf dem benachbarten Maifeld zu bewundern: der „Weltmeister im Pfeifen“, ein Placido Domingo der flinken Zunge sozusagen, der mit seinem dynamischen Trillern und Jubilieren ganze Orchester in den Schatten stellt. Er trat bei der tailgate-party auf, einem bunten Jahrmarkt mit Live-Music, Eß- und Trinkständen, einer Los- und sogar einer Schießbude. Schließlich würde kein US-Bürger auf die Idee kommen, ins Stadion zu gehen, nur um ein bißchen Sport anzuschauen. Mindestens genauso wichtig wie das Match ist das Rahmenprogramm.

Es war zu befürchten, daß neben solch netten Dingen wie dem „whistle champion“, den Frisbee-Fang-Hunden, der Bodenakrobatik der Cheerleaders oder dem Feuerjongleur auch jene Geschmacklosigkeiten, die dem Paradesport der Eroberer, Usurpatoren und Raumgewinnler anhaften, mit nach Europa reisen würden, und so war es denn auch. Die Verleihung eines Sternenbanners an Chiefs-Linebacker Derrick Thomas, dessen Vater in Vietnam gefallen ist, durfte ebenso wenig fehlen wie die schwülstige Sangesversion der US-Hymne, ergänzt durch die bundesdeutsche bei gleichzeitigem Ausrollen gigantischer Nationalflaggen. Hinzu kamen fahnenschleppende Fallschirmspringer und als Gipfel der Peinlichkeit eine Gedenkminute für die Opfer der Berliner Mauer.

Eindeutig pragmatischer wurde die vielgerühmte historische Dimension des Spielortes von einigen Fans aus Los Angeles gesehen, die den Vers „Berlin wall gone - Ram wall number one“ auf ihr Transparent geschrieben hatten. Die Rams aus L.A., ein absolutes Spitzenteam der National Football League (NFL), verfügten über die größere Fangemeinde unter den 55.429 Zuschauern, von denen ein beträchtlicher Teil der fast vergessenen, aber immer noch präsenten amerikanischen Besatzungsmacht angehörte. Ein Tatsache, auf die auch Christian Okoye, robuster Running Back der Kansas City Chiefs, verwies, als er gefragt wurde, ob er dem Football in Deutschland eine Chance gebe. „Das wird noch viele Jahre dauern“, meinte der Kraftprotz aus Nigeria, eine Einschätzung, die der alerte NFL-Commissioner Paul Tagliabue gar nicht gerne hören wird.

Der neue Saubermann des Football, der gleich nach seiner Wahl eine Antidrogenkampagne ins Leben rief und am Eingang der Umkleideräume Plakate aufhängen läßt, auf denen er an die Spieler appelliert, doch bitte keine Spiele zu verschieben und das Abschließen von Wetten zu unterlassen, will den „American Football“ nämlich weltweit etablieren.

Besonders in Kanada und England hält er die Zeit für gekommen, schon in den neunziger Jahren Teams zu bilden, die in der NFL mitspielen sollen. „Millionen Menschen hier verstehen jetzt diesen Sport“, sagte auch Billy Hicks, der Koordinator des NFL-Ablegers „World League of American Football“ (WLAF), die im nächsten Jahr den Spielbetrieb aufnehmen soll. „Vor vier Jahren fragten sie uns noch, was ein Linebacker ist, heute wollen sie wissen, warum der und der nicht spielt“, freut sich Hicks und verweist auf eine Umfrage, die ergab, daß 26 Prozent der englischen Fernsehzuschauer zwischen 15 und 24 gern American Football sehen, während nur 28 Prozent derselben Altersgruppe angeben, daß sie am normalen Fußball interessiert sind. Klar, daß London eine wichtige Basis für die WLAF werden wird. Die anderen europäischen Spielorte sollen Barcelona, Mailand und Frankfurt sein, hinzu kommen Teams aus Mexiko, Kanada und den Vereinigten Staaten.

Den Profis aus Kansas und Los Angeles war derlei Zukunftsmusik ziemlich schnuppe. Für sie war der Trip nach Europa je nach Status eine hübsche Vergnügungsreise oder harter Kampf um die Plätze im Team. Während Superstars wie der philantropische Rams-Quarterback Jim Everett, Gründer einer wohltätigen Stiftung, der sich „noch in fünfzig Jahren“ an die beeindruckende Reise nach Berlin erinnern will, den Trip sichtlich genossen, ging es für viele der jeweils etwa hundert Spieler jedes Teams schlicht um die Existenz. Nach den Vorbereitungsspielen wird nämlich nur rund die Hälfte in den endgültigen Kader übernommen.

Für die Chiefcoaches war das Match vor allem eine Gelegenheit zum Probieren. Topleute wie bei den Rams Henry Ellard, einer der besten Fänger der NFL, oder Abwehrbollwerk Doug Reid zogen sich gar nicht erst um, und auch Jim Everett absolvierte in dieser überlegen mit 19:3 gewonnenen Partie nur ein Spielviertel, das er allerdings gleich zu einem Touchdown-Paß nutzte.

Eine wahre Feuerprobe hatte dafür Running Back Gaston Green zu bestehen, der fast bei jedem Angriff das ledrige Ei überreicht bekam. 21mal durfte er sich dem Inferno auf ihn einprasselnder Muskelmassen aussetzen, löste seine Aufgabe jedoch mit Bravour. 115 Yards erlief er für sein Team und wurde zum besten Spieler des Matches gekürt.

Christian Okoye, der 28jährige 240-Pfund-Koloß, wegen seiner täuschenden Ähnlichkeit mit einer Lokomotive „Choo Choo“ genannt, spielte bei Kansas nur knapp vier Minuten, aber das reichte, um mit zwölf gewonnenen Yards zum zweitbesten Läufer der Chiefs nach Barry Word (30) zu avancieren.

Gemeinsam mit seinem Freund Innocent Egbunike war der in Biafra aufgewachsene Okoye in jungen Jahren in die USA gegangen, wo sich beide der Leichtathletik verschrieben. Egbunike wurde einer der besten 400-Meter-Läufer der Welt, und Okoye hielt bis vor kurzem noch den afrikanischen Rekord im Diskuswerfen. „Kürzlich hat ihn aber jemand gebrochen“, wußte er traurig zu berichten.

Als er nicht für die Olympischen Spiele 1984 nominiert wurde, ließ sich Okoye zum Football, diesem „gefährlich aussehenden und schwer zu verstehenden Sport“, überreden und wurde, nachdem er die Sache begriffen hatte, rasch zu einem der Superstars der NFL. Mit zwölf Touchdowns und 1.480 gewonnenen Yards war er der erfolgreichste Running Back der letzten Saison, doch in seiner Heimat kennt ihn als Footballspieler niemand.

„Das wird äußerst schwer“, ist Okoye skeptisch, was die eventuelle Expansion der NFL auch nach Afrika betrifft. In Nigeria regiert der Fußball europäischer Prägung, ein Sport, den auch Okoye früher betrieben hat. „Ich war Torwart und Verteidiger“, erzählt er stolz, und auf die Frage, ob er da genauso gut gewesen sei wie jetzt im American Football, antwortet er verschmitzt lächelnd: „Besser.“