„Die Mauer hatte auch etwas Schützendes“

■ In Gesamt-Berlin nicht nur Euphorie über den Mauerfall / Zöllner verlieren ihre alte Arbeit / Chaos am Baumschulenweg

Berlin. „Spandau“, „Tiergarten“ und „Zehlendorf“ liegen fest vertäut am Steg der Grenzkontrollstelle Kladow. „Ist nicht mehr viel los hier“, sagt Hartmut Schreiber, zweiter Mann auf dem Wannsee-Kontrollposten des Hauptzollamtes Berlin-Kurfürst. Früher, vor dem ersten Juli, erzählt Schreiber, seien er und seine Kollegen mit den extra für den Zoll gebauten Schiffen hinausgefahren und hätten bei den Berufsschiffern festgemacht. Die Formalitäten mußten schnell erledigt werden, denn das DDR-Hoheitsgebiet beginnt direkt hinter Kladow. Jetzt seien sämtliche Zöllnerei im grenzüberschreitenden Verkehr und die Kontrollen im innerdeutschen Handel weggefallen, berichtet Schreiber weiter, ebenso wie die Grenzaufsicht. Übriggeblie ben sei nur das Untersuchen der Sportboottanks auf verbotenes Heizöl.

Es herrscht beschauliche Stille auf dem baumbestandenen 12.000-Quadratmeter-Grundstück am Schwemmhorn. Von ehemals gut 70 Grenzbeamten der Kontrollstelle Kladow mit den Außenstellen Teltowkanal und Teufelsseekanal ist schon die Hälfte in andere Westberliner Zollstellen abgerückt. Bis zum ersten Dezember dieses Jahres, so hat Schreiber unlängst erfahren, soll Kladow ganz aufgegeben werden. Was mit den restlichen Wasserzöllnern und der kleinen Bootsflotte passieren soll, ist noch unsicher. Vielleicht werden sie nach der Vereinigung an der Grenze zu Polen stationiert. Eine ganze Reihe seiner Mitarbeiter würde gerne an die Oder pendeln, meint Schreiber, „wenn sie nur an ihrem Steuer drehen können“.

Insgesamt sind nach Schätzungen der Berliner Oberfinanzdirektion besonders die 650 Grenzbeamten des mittleren Dienstes vom Mauerfall betroffen. Da nur ungefähr ein Drittel von der Polizei übernommen werden könne, seien Versetzungen in den „Binnenbereich“ nicht auszuschließen. Unweit der Grenzkontrollstelle befindet sich der Kladower Campingplatz. Der Krampnitzer Weg, der mittendurch führt, endete früher in einer ruhigen Sackgasse, hier stand die Mauer. Eigentlich ist der neue Übergang nur für Radfahrer und Fußgänger gedacht, aber nicht alle halten sich daran. „Hier kommen am Wochenenden mindestens 150 Autos durch“, ärgert sich Michael Hyzy, der seinen Wohnwagen mit großem Vorzelt direkt am Krampnitzer Weg postiert hat. Der junge Familienvater hat Angst um seine beiden kleinen Kinder, die sich nicht mehr auf den Spielplatz auf der anderen Straßenseite trauen. Den BVG-Busfahrer wundert es, daß die Polizei nicht mehr gegen die wild umherfahrenden Autos unternimmt, zumal das Gebiet um den Campingplatz Naturschutzgebiet ist. Eine andere Kladower Camperin beschwert sich über die Staubwolken, die bei trockenem Wetter auf dem neuen Durchfahrtsweg aufgewirbelt werden.

Obwohl sie froh ist, daß die Grenze gefallen ist, sehnt sie sich nach der verlorenen Ruhe: „Die Mauer hatte auch etwas Schützendes“, sagt sie. Kladow ist immer noch ein idyllisches Plätzchen im Vergleich zum Baumschulenweg im rund 25 Kilometer entfernten Ostberliner Stadtteil Treptow. „Chaotisch bis zum Geht-nicht-mehr“, beschreibt Blumenhändler Dieter Scheerbart das Verkehrsgewühl, das sich vor seinem Laden tummelt. Hier, wo auch die Haltestelle für den 47er Bus ist, drängen unaufhörlich die Autokolonnen von der Forsthausallee und der Sonnenallee - der Hauptstraße von Neukölln aus - auf den ehemals beschaulichen Baumschulenweg. Scheerbarts Standort ist seit der Grenzöffnung zu einer Verkehrsinsel geworden, deren Betreten gefährlich geworden ist: „Viele Kunden, besonders ältere, trauen sich nicht mehr über die Straße“, klagt Angestellte Helga Wolff. Vor rund einer Woche, so erzählt Frau Wolff weiter, sei eine Kundin angefahren worden. „Hier kracht's andauernd“, pflichtet ihr Geschäftsinhaber Scheebart bei.

Wenn die insgesamt 140 unterbrochenen Straßenverbindungen in Berlin wiederhergestellt sind, wird es auch die Wagenburg nicht mehr geben, die sich derzeit noch direkt an der Kreuzberger St.Thomaskirche im wehrhaften Halbrund formiert. Hier kreuzen sich nämlich der Kreuzberger Bethaniendamm und die Ostberliner Melchiorstraße. Bisher steht aber die Mauer fast unversehrt. Rund 15 Bewohner kampieren hier seit Mai 1989 in zwölf Anhängern oder Bauwagen; von der Westseite kann ihnen bis heute keiner etwas anhaben, weil ihr Stellplatz bereits zum Osten gehört. „Die Grenzpolizisten kamen früher öfters durch die Türen in der Mauer“, erzählt einer der Bewohner der Wagenburg, dem gerade die zahme Taube Rosella auf die rechte Schulter geflogen ist. „Wir hatten guten Kontakt, sie haben uns sogar öfters Brot geschenkt.“

Der gute Draht zum Osten wird nicht mehr viel helfen, wenn die Straße wieder aufgemacht werden soll. Bisher gibt es zwar noch keine Anzeichen dafür, aber „wenn die Mauer fällt, müssen wir hier weg“, sagt ein anderer. Auf den ehemaligen Todesstreifen wollen sie nicht ausweichen, dann schon eher auf den Görlitzer Bahnhof. „Eine gute Atmosphäre ist da.“ Die Kolonie auf dem Bethaniendamm schließt einen kleinen Garten mit ein, in dem Bohnen, Kohl und Sellerie reifen. Bewirtschaftet wird das Grün von zwei türkischen Familien aus der Nachbarschaft schon seit über zwei Jahren. Die Kinder verkaufen jetzt neben den Bauwagen Mauerstücke an Touristen. Sie wären auch traurig, wenn die Beete dem Asphalt weichen müßten: „Wenn wir abends zum Essen Gemüse brauchen, gehen wir einfach runter auf die Straße“, sagt der 16jährige Akyol.

Viele Fälle der Mauerfallgeschädigten sind weniger spektakulär. Etwa der der 82jährigen Rentnerin, die nicht in ihrem Stamm-Aldi am Ende der Spandauer Heerstraße einkaufen kann, weil dieser ständig mit Konsumenten aus dem Umland überfüllt ist. „Da stehen jetzt schon ganz früh die Schlangen“, sagt sie. Sie fährt jetzt mit dem Bus zur nächsten Filiale an der Pichelsdorfer Straße. „Da ist es nicht so schlimm“, sagt sie beim Einsteigen in den 94er.

Christian Böhmer