Abschiebegewahrsam wird zu „Erzwingungshaft“

■ Marokkaner sitzt bereits seit über sieben Monaten in Abschiebegewahrsam / Bürgerrechtsgruppen kritisieren lange Haftdauer

West-Berlin. Der Lebenslauf des Abdellali T. ist nicht gerade ein mustergültiger. Neunzehn Jahre lebt er inzwischen in Deutschland, neun Jahre klappte alles bestens, dann kamen „private Schwierigkeiten“, reichlich Alkoholkonsum und ein Vorstrafenregister, das vom Diebstahl bis zum versuchten Raub reicht. Seine Haftstrafen hat der 43jährige Tischler aus Marokko abgesessen, aber die zusätzliche Strafe - die Abschiebung nach Marokko - wollte er nicht hinnehmen. Im November 1989 reiste er wieder nach West-Berlin. Jetzt sitzt er wieder hinter Gittern, dieses Mal in der Abschie behaft - ohne etwas verbrochen zu haben.

Laut Ausländergesetz darf Abschiebehaft nur zur Sicherung der Abschiebung verhängt werden. Nur gibt es bei Abdellali T. im Moment nichts zu sichern. Weil er keine Reisepapiere hat, kann er nicht abgeschoben werden. Ebenfalls laut Gesetz können Nichtdeutsche bis zu zwölf Monate in Abschiebegewahrsam festgehalten werden. Im Fall von Abdellali T. legen es die Behörden offenbar darauf an, diesen Zeitraum voll auszuschöpfen. Der Marokkaner sitzt seit dem 4. Dezember 1989 im Abschiebegewahrsam in der Kruppstraße.

Bürgerrechtsgruppen und auch die AL haben den zeitlichen Spielraum des Gesetzes immer wieder kritisiert. Sie fordern die Begrenzung der Haftdauer auf maximal sechs Wochen einige Flüchtlingsgruppen wollen die Abschiebehaft ganz abgeschafft wissen. Schon vor Wochen hatte der Ausländerbeauftragte der evangelischen Kirche, Thomä-Venske, in einem Brief an den Petitionsausschuß des Abgeordnetenhauses die lange Haftdauer moniert. Unter anderem führte Thomä-Venske das Beispiel eines Tamilen an, der neun Monate in Abschiebehaft saß und inzwischen - durch die lange Haftdauer zermürbt - in seine Abschiebung einwilligte. Fünf Monate lang - von Dezember bis Mai behielten die Behörden Jovan Stevanovic, Sohn einer jugoslawischen Roma-Familie, in Abschiebehaft. Seine Eltern und seine minderjährigen Geschwister durften nach mehreren Tagen Haft das Hickhack um ihren weiteren Aufenthalt in der Obhut einer Kreuzberger Kirchengemeinde abwarten. Obwohl der Pastor der Ausländerbehörde angeboten hatte, auch Jovan bei sich polizeilich zu melden, blieb der junge Mann in Abschiebegewahrsam. Während der Sohn in einer Achtmannzelle in der Kruppstraße saß, wollte Innenstaatssekretär Borrmann die Familie zur „freiwilligen Ausreise“ bewegen.

Im Fall von Abdellali T. argumentiert die Innenverwaltung, der Marokkaner sei an der langen Haftdauer selbst schuld. Schließlich habe er sich nicht an der „Beschaffung der Reisepapiere beteiligt“. Eine ähnliche Begründung erhielt der Ausländerbeauftragte Thomä-Venske vom Petitionsausschuß, als er dort das Schicksal eines Flüchtlings aus Ghana schilderte, der mittlerweile über neun Monate in Abschiebehaft verbracht hat. Dann, so Thomä-Venske, solle man das Kind beim Namen nennen: „Das ist keine Abschiebe-, sondern Erzwingungshaft.“

Ein versöhnliches Ende hat bislang nur der Fall des jungen Rom gefunden. Dank des Engagements von Kirchenmitgliedern und der Westberliner Cinti-Union haben die Stevanovics inzwischen eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Auch Jovan ist wieder frei, doch für fünf Monate Knast - auch wenn sie Abschiebegewahrsam heißen - entschädigt ihn niemand.

Andrea Böhm