„Tourismus - das sind wir nicht“

■ Unerwartet viele DDR-Bürger nutzten den letzten Sommer des „alten“ FDGB-Feriendienstes / Die Ostsee ist auch weiterhin der „Lottogewinn“ für Reisende aus der DDR / Sanierungsbedürftige Ferienheime werden die Einheit in ihrer bekannten Gestalt nicht überstehen

Aus Wustrow Karin Mayer

Die Begrüßung ist sozialistisch: „Unser Kollektiv heißt sie herzlich willkommen und wünscht Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“ Ein Schild neben der Tür zum Speisesaal des FDGB-Ferienheims im Ostseebad Wustrow. Vor dem Abendessen wartet man vor der Tür, bis man aufgerufen wird. Wer unangemeldet kommt, kann im „Ersatzzimmer“ über der Kühlanlage schlafen, wo sich der Gast wie in einem Düsenflugzeug fühlen kann.

Ferien in der DDR: nichts scheint sich verändert zu haben. Anreise alle zwei Wochen, im sozialistischen Sprachgebrauch genannt „Durchgang“ oder „Urlauberwechsel“. Kollektives Frühstück, Mittagessen und Abendessen, Schlangestehen und drückende Leblosigkeit in Gängen, wo der Linoleumboden Falten wirft und der Braunkohlegestank in der Nase beißt.

DDR-Urlaub, das ist ein 14tägiger Aufenthalt in einem FDGB -Ferienheim. „Ferienchecks“, die 1989 von der Gewerkschaft ausgegeben wurden, gelten trotz Währungsunion und Mauerfall. In Wustrow wie an der gesamten Ostseeküste sind die DDR -Bürger entgegen allen Befürchtungen an die zugeteilten Plätze gereist - trotz offener Grenzen. „Unsere Häuser sind bis zu 86 Prozent ausgelastet,“ sagt Hauptgeschäftsführer Peter Kühnl. „Wir haben es uns schlimmer vorgestellt.“ Bisher sind die FDGB-Heime zu 97 Prozent ausgelastet worden.

Der Feriendienst funktioniert bis Ende September wie gehabt - solange haben die 18.400 Beschäftigten in dieser Branche noch ihre Arbeit. Ferienplätze an der Ostsee waren in den letzten 40 Jahren sehr begehrt. „Wie ein Lottogewinn“, sagt eine Frau, die aus Limbach, Bezirk Chemnitz, nach Wustrow gereist ist. Daß so viele DDR-Bürger ihren Urlaub im eigenen Land verbringen, hätte sie nicht gedacht. „Zuhause haben alle gesagt, ihr werdet alleine an der Ostsee sitzen.“ Wie die Preise im Urlaubsort nach der Währungsunion aussehen, das muß sie erst noch herausfinden.

Ein Mann in blauem Jogginganzug hat 16 Jahre lang auf einen Platz in einem Ferienheim gewartet. Klar, daß er dann erst mal auf eine Auslandsreise verzichtet, die außerdem viel zu teuer ist. „Erst mal abwarten und sehen, was noch auf uns zukommt“, das ist die Haltung von vielen DDR-Bürgern. Die Befürchtung, das „neue“ Geld könnte ihen bald ausgehen, die Unsicherheit, wie lange der Arbeitsplatz noch erhalten bleibt, halten viele im Land und in den billigen Ferienheimen.

Kein Geld für Sozialtourismus

An der Rezeption muß Heimleiter Peter Winkelmann wegen Einsparung Mädchen für alles spielen: Selbst Bestellungen für das Mittagesssen nimmt er entgegen - statt Vollpension ist nur Frühstück und Abendessen im Preis enthalten. „Für 210 Mark Vollpension für drei Personen und 14 Tage. Das war Sozialtourismus. Einfach nicht durchzuhalten.“ Zwei Drittel hat der Staat bezahlt, das letzte Drittel der Kosten übernahm die Gewerkschaft. Nur ein Viertel aller Aufenthaltskosten kam aus den Taschen der Urlauber.

Wen wundert es da, daß die Kassen der Ferienheime leer sind und der Zustand der Häuser bedenklich? „Ich kann nicht mal meine Kugelschreiber einkaufen,“ empört sich Heimleiter Winkelmann, der erst seit dem 1. Juli 1990 in Wustrow arbeitet. Frustrierend, weil der ehemahlige Exportfachmann und Reisekader Winkelmann glaubt, daß er aus dem „Haus am Strand“ und dem Feriendorf mit 90 Bungalows eine Goldgrube machen könnte. Allein das Grundstück - drei Hektar, direkt hinter den Dünen - ist Millionen wert.

Um die „Ferienobjekte“ in Wustrow an westlichen Standard anzupassen, müßte Winkelmann einiges auf den Tisch blättern. Für rund 500 Feriengäste gibt es nur eine Dusche, auf jedem Stockwerk nur eine Toilette. Die Bungalows haben keine Heizung, das Haupthaus wird mit Braunkohle beheizt, wofür das ganze Jahr über drei Heizer angestellt werden. „Ein bis zwei Millionen,“ schätzt Winkelmann, müßte er in die Häuser investieren. Keine Ausnahme, nur ein Beispiel für die Situation der meisten Ferienheime an der Ostseeküste: Renovierungsbedürftig und spärlich mit sanitären Anlagen ausgestattet. In den vergangenen 40 Jahren kam es darauf an, so viele Reisen wie möglich zu vermitteln. Alte Häuser wurden vernachlässigt, die Bausubstanz zerfiel. Neue Heime wurden im ruck-zuck-Verfahren aus der Erde gestampft. 1,9 Millionen Reisen hatte der FDGB zuletzt „verteilt“.

Wichtige Investitionen werden durch die unsichere Rechtslage des FDGB-Feriendienstes nach der Währungsunion verzögert: Der Feriendienst, bisher im Besitz der DDR -Gewerkschaft, wurde in eine GmbH umgewandelt und ist als Holding organisiert.

Eigeninitiative - chancenlos

Umstritten ist, ob die Feriendienst-Gesellschaft rechtmäßiger Nachfolger des FDGB-Feriendienstes ist. Auch die Gemeinden melden Anspruch auf den Gewerkschaftsbesitz an. „Alles ist noch im Umbruch“, Peter Kühnl, Hauptgeschäftsführer der Feriendienst-GmbH, zeigt sich in vieler Hinsicht ratlos. Mit 500 Millionen Mark jährlich wurde der Feriendienst vom Staat unterstützt. Investieren müßte man hunderte Millionen. Seine Vorstellung: Zusammenarbeit mit ausländischen Unternehmen, Verkauf einzelner „Objekte“. „Aber nur, wenn es keine andere Lösung mehr gibt.“ Eine Mehrheitsbeteiligung eines westdeutschen Reiseveranstalters kann sich Kühnl nicht vorstellen. Der Feriendienst entstand 1947 aus Einrichtungen der Gewerkschaft und der SMAD, die Sowjetische Militäradministration in Deutschland. Vier Jahre später folgte mit der „Aktion Rose“, die Enteignung sämtlicher großer Häuser entlang der Ostseeküste. Das könnte dem Feriendienst jetzt zum Verhängnis werden: ehemahlige Besitzer erheben Anspruch auf Häuser und Grundstücke. 70 bis 80 Prozent der insgesamt 700 Heime in der DDR könnten so verlorengehen.

„Unverbrauchte Natur

ist unser Kapital“

„Mir gibt doch keiner Geld für Revonierungen, so lange ich nicht wirklich über das Haus verfügen kann,“ Heimleiter Peter Winkelmann steckt wie viele Heimleiter in der Klemme. Von der Feriendienst-GmbH ist kein Geld zu erwarten. „So'n Quatsch. Wenn es jetzt kein Geld gibt, stirbt der Laden und nächstes Jahr stehen wir alle auf der Straße.“ Initiative von unten sei zwar da, aber es gebe keine Chance, sich durchzusetzen.

Leichter haben es die Privaten. Als erster eingetragener Verein ist ein Fremdenverkehrsverein in Wustrow entstanden. Dieter Alex, Vorsitzender des Vereins, vermittelt nach Feierabend, Zimmer an durchreisende Touristen. „Seit Mitte Juni sind wir ausgebucht,“ sagt Alex. Zimmer in seinem Haus vermietet er für 40 Mark und arbeitet mit einer westlichen Reiseagentur zusammen. Von großen Hotels will der Fremdenverkehrsverein nichts wissen. „Unverbrauchte Natur ist unser Kapital.“ Viele Private, die bisher über den FDGB Betten vermieten konnten, sich aber nicht im Fremdenverkehrsverein organisiert haben, sitzen auf dem Trockenen. Im gesamten Fischland Darß hatte der FDGB im vergangenen Sommer 4.000 Betten angemietet.

Der erwartete Touristenstrom sei ausgeblieben, so eine Mitteilung der neu gegründeten DDR-Tourismusagentur Detoura, die direkt an das Ministerium für Handel und Tourismus gebunden ist. Auf der Landstraße zwischen Wustrow und Barth, entlang dem Fischland Darß, merkt man wenig davon. Sogar während der Woche kann man hier im Stau stehen. Einheitstempo für Ost- und Westautos - ein Fünkchen Gerechtigkeit bleibt nach der Währungsunion.

Neu in den Ferienorten sind fliegende Händler, die aus dem Westen kommen und T-Shirts, Sonnenbrillen und Tand feilbieten. Neu sind Surfschulen und Bootsverleihe, weil zum ersten Mal die Grenze in fast fünfeinhalb Kilometern Entfernung von der Küste keine Rolle mehr spielt, Republikflucht nicht mehr nötig. Sogar Luftmatrazen waren bisher im Strandbereich verboten.

West-Gucker bleiben nicht

Neu sind auch die „Gucker aus dem Westen“, die mit Wohnmobilen an der Küste entlang fahren, ohne länger an einem Ort zu bleiben. Das Risiko einer festen Buchung wollten die Westdeutschen dieses Jahr noch nicht eingehen. Auf Individualreisende ist man trotz vieler Bemühungen noch nicht eingestellt. Eine Nacht bleiben und am nächsten Tag weiterfahren? Für DDR-Bürger nicht zu fassen. Wer unangemeldet kommt und im FDGB-Ferienheim frühstücken will, muß sich darauf gefaßt machen, daß er Kaffee, Brötchen und Marmelade einzeln und nacheinander bestellen muß. „Tourismus? Das sind wir nicht. Das wollen wir auch nicht,“ sagt dazu der Heringsdorfer Direktor der FDGB-Ferienheime Erhard Rusch. „Wir haben Urlauber. Und die wollen wir auch in Zukunft haben.“ Daß sich die Reisenden aus dem Westen nicht so leicht in den FDGB-Einheitsurlaub pressen lassen, bereitet einigen Köpfen noch Schwierigkeiten.