Das Berliner Entsorgungsbeben

■ „Nein“ der Umweltsenatorin zum HMI-Reaktor wirft ein Schlaglicht aufs allgemeine Entsorgungsdrama

Die Entsorgung der strahlenden Hinterlassenschaft der bundesdeutschen Atomwirtschaft steht auf schwankendem Boden. Das ist inzwischen eine Binsenweisheit. Liest man Michaele Schreyers Ablehnungsbescheid für den HMI-Forschungsreaktor in Berlin, entsteht ein dramatischerer Eindruck: Das Beben ist voll im Gange und droht nicht nur den Reaktorwinzling in Wannsee in den Abgrund zu stürzen. Schreyers Juristen konfrontieren die Entsorgungsrealität mit den hehren Ansprüchen des Atomgesetzes und den „Grundsätzen zur Entsorgungsvorsorge für Kernkraftwerke“ aus dem Jahr 1980.

Das Atomgesetz verlangt die Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente („schadlose Verwertung“) oder als Notlösung die „geordnete Beseitigung“ der radioaktiven Abfälle. Schreyer mag die Wiederaufarbeitung nicht, aber „nach Recht und Gesetz“ hat sie darüber zu urteilen, ob die vom HMI mit dem britischen Partnerunternehmen AEA Fuel Services vereinbarte Kooperation den Vorgaben des Atomgesetzes gerecht werden. Dazu fehlen ihr die Informationen. „Trotz Aufforderung“, heißt es in dem Bescheid, habe das HMI keine „Unterlagen beigebracht, anhand deren wir uns ein Urteil über die Schadlosigkeit der Verwertung in der Anlage in Dounreay hätten bilden können“. Im Gegensatz zu den Wiederaufarbeitungsanlagen in Sellafield und im französischen La Hague weiß die bundesdeutsche Seite nämlich über die Anlage in Dounreay so gut wie nichts. Ob die speziellen HMI-Brennelemente dort überhaupt wiederaufgearbeitet werden können ist ungeklärt. Bundesdeutsche Experten haben den schottischen Laden nie von innen gesehen.

Sollte die Wiederaufarbeitung tatsächlich stattfinden, entstehen neue Probleme. Schreyer ans HMI: „Bislang wurde von Ihnen nicht dargelegt, was mit den bei der Wiederaufarbeitung erzeugten radioaktiven Abfällen geschehen soll.“ Tatsächlich wollen die Briten den HMI-Müll „spätestens 25 Jahre nach Wiederaufarbeitung“ wieder los sein. Das HMI hatte - mit einem nicht ganz unrealistischen Blick auf die Entsorgungssituation in der Bundesrepublik argumentiert, es sei für die englische Seite unannehmbar, das „Verzögerungsrisiko“ allein zu tragen. Gemeint ist insbesondere die eindeutige Absage, die die kürzlich inthronisierte rot-grüne Regierung in Hannover dem Endlager für hochradioaktiven Atommüll in Gorleben erteilt hat. Eine Alternative ist nirgends in Sicht. Niemand weiß heute, ob nach Ablauf der 25 Jahre ein Bundesendlager zur Verfügung stehen wird.

Dieses Problem lastet schwerer noch als auf dem HMI auf sämtlichen bundesdeutschen Atomkraftwerken, deren Atommüllausstoß den des Berliner Zwergs um zwei bis drei Größenordnungen übertrifft. Der Berliner Umweltverwaltung kommt das Verdienst zu, mit dem HMI-Ablehnungsbescheid die brisante Situation erstmals regierungsamtlich und justitiabel formuliert zu haben. Was mit den unvergleichlich größeren Mengen hochaktiven Mülls aus den bundesdeutschen Großmeilern nach der Wiederaufarbeitung in La Hague und Sellafield geschehen soll, steht in den Sternen. Klar, weil vertraglich vereinbart, ist lediglich ihre Rückkehr in die Bundesrepublik.

Bleibt noch die Zwischenlagerung. Das HMI will den Müll nach der Rückkehr aus Dounreay in Gorleben unterstellen und beruft sich dabei auf die genannten Entsorgungsgrundsätze von 1980. An diese Grundsätze fühlt sich Schreyer nicht gebunden, weil sie als Vereinbarung zwischen Bundes- und Landesregierungen keine Gesetzeskraft haben. Damit folgt die Berliner Umweltsenatorin einer Position, die auch der Kieler Energieminister und Momper-Genosse Günther Jansen (SPD) vertritt. Wesentliche Voraussetzungen der Grundsätze seien zudem inzwischen in Frage gestellt, argumentiert Schreyer. Vom „integrierten Entsorgungskonzept“ der Bundesregierung sei nach der Flucht der Atomgemeinde aus Wackersdorf und dem drohenden „Aus“ für das Endlager Gorleben nichts mehr übrig. In den Grundsätzen wird die Entsorgungsvorsorge zwar grundsätzlich als erfüllt angesehen, wenn eine Zwischenlagerung von sechs Jahren nachgewiesen werden kann. Aber nur unter der Bedingung, daß eine „realistische Planung“ der weiteren Entsorgungsschritte damit verbunden ist. Davon kann beim besten Willen nicht die Rede sein, meint Senatorin Schreyer, weshalb sie dem HMI selbst dann keinen Persilschein hätte ausstellen können, wenn die „Grundsätze“ für ihre Behörde bindend gewesen wären.

Übrigens: Die Bundesregierung hat die dunklen Wolken über dem bundesdeutschen Atomkraftpark bereits im Juni 1989 heraufziehen sehen. Damals verlangte sie eine Anpassung der „Grundsätze“ an die neuen Realitäten. Bis heute gab es viele Sitzungen auf verschiedenen Ebenen - aber keine Ergebnisse.

Gerd Rosenkranz