: „Schlucken lassen wir uns nicht“
■ Ferienprogramme für rumänische und palästinensische Kinder, ein Krankenhaus für Nicaragua, Unterricht für namibische Schüler - der Solidaritätsdienst in Ost-Berlin betreibt bewährte Entwicklungshilfe unter neuen Vorzeichen
Ost-Berlin. Im Trubel des Lichtenberger Bahnhofs gingen sie gestern morgen fast unter: 150 rumänische Jungen und Mädchen staksten, mit Rucksäcken und Koffern beladen, aus dem Zug dem Bus entgegen, der sie nun endgültig in die Ferien bringen sollte: drei Wochen Baden, Toben und Spielen am Werbellinsee. Dort trafen sie dann auf rund 30 palästinensische Kinder - die meisten stammen aus den besetzten Gebieten, wo die meisten Kinder seit Beginn der Intifada das Spielen schon fast verlernt haben. Die Zeiten haben sich geändert, die Umstände auch. Das Ferienzentrum am Werbellinsee für die Kinder aus Rumänien und Palästina heißt nicht mehr „Pionierrepublik“, sondern „Kinderland“. Das Solidaritätskomitee hat sich in Solidaritätsdienst (SODI) umgetauft. Und zu Zeiten des SED-Regimes wäre es kaum möglich gewesen, Kinder aus dem sozialistischen Bruderland Rumänien einzuladen, die „besonders unter den sozialen Folgen der Ceausescu-Diktatur gelitten haben“.
Außer Ferienprogrammen für Kinder finanziert der SODI weiterhin Projekte der Hungerhilfe in Mosambik, Angola, Äthiopien und Afghanistan, beteiligte sich in diesem Jahr an Katastropheneinsätzen in Tunesien, Iran, Peru und Tansania. Dank des Solidaritätsdienstes haben mehrere hundert namibische Kinder in der DDR eine Schule besucht; schwarze Südafrikaner, Mosambikaner oder Angolaner haben hier ihre Ausbildung abgeschlossen.
Hilfsgüter zu beschaffen war früher enorm schwierig, andererseits wiederum einfach, weil der Weg genau vorgeschrieben war. Zu Zeiten der Planwirtschaft „mußten wir gucken, was zu kriegen war“, sagt Wolfgang Krause, stellvertretender Geschäftsführer des SODI. Und wenn der Plan gerade 42 Tonnen „Babysan“ vorsah, dann wurden eben der Festpreis für 42 Tonnen „Babysan“ zusammengesammelt und die Solidaritätsgüter nach Mosambik, Afghanistan oder Äthiopien geschickt. War die Angebotslage in der DDR schlecht, wahrte man über solche Aktionen Stillschweigen. Wer liest schon gerne in der Zeitung die stolze Meldung über Hilfsaktionen für das sozialistische Bruderland, wenn in Schwerin die Babynahrung knapp ist. Heute muß Krause „mindestens drei Angebote vergleichen“, damit der Solidaritätsdienst nicht in den Ruch kommt, Anbieter zu bevor zugen.
Nicht nur im organisatorischen, auch im politischen Bereich ist einiges ins Wanken geraten. „Wir haben das Problem des Südens zu stark unter dem Ost-West-Konflikt gesehen“, sagt Krause. Als zum Beispiel die der SED eng verbundene irakische Regierung durch den Einsatz von Giftgas Tausende von Kurden ermordete, da hätte sich Krause gerne laut dazu geäußert, „aber wir durften eben nicht“. Man sei eben sehr diszipliniert gewesen, die Faust habe man allenfalls in der Tasche geballt. Seit einigen Wochen werden nun Opfer dieser Giftgaseinsätze in einem Ostberliner Krankenhaus behandelt ein Ergebnis gelungener Kooperation zwischen Westberliner Ärztekammer und Ostberliner Solidaritätsdienst. Als Signal der „Entideologisierung“ will Krause das verstanden wissen.
Mit dem neu geschaffenen Entwicklungshilfeministerium unter Ex-DSU-Mitglied Wilhelm Ebeling hat man sich indes gut arrangiert. Das Solidaritätskomitee greift dem Ministerium unter die Arme und hat die Leitung des Entwicklungshelferdienstes übernommen. Das Ministerium wiederum hilft bei der Finanzierung von sieben Komiteeprojekten, unter anderem dem Krankenhaus „Carlos Marx“ in Managua, „das von uns alles bekommt - von der Spritze bis zum Bettlaken“, sagt Krause. Mit dem Namen des Krankenhauses habe der Minister seine Schwierigkeiten, ansonsten laufe die Zusammenarbeit „sehr gut“. Den Solidaritätsdienst, davon ist Krause überzeugt, wird es noch geben, wenn es die DDR schon nicht mehr gibt - mit einem politischen Ansatz, der den Entwicklungshilfebürokraten in Bonn unangenehm im Magen liegen dürfte. „Die würgen ein bißchen an uns“, vermutet Wolfgang Krause, aber schlucken lasse man sich nicht. „Schließlich können wir uns sehen lassen mit dem, was wir geleistet haben.“
Andrea Böhm
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