Gewalt und Einsamkeit

 ■ Zum diesjährigen Filmfestival in Locarno

Von Ute Thon

Die Schweizer sind merkwürdige Leute. Da haben sie eines der schönsten Freiluftfestivals auf dem an sensationellen Filmschauen wahrlich nicht armen Kontinent, und was tun sie? Sie verschmähen das Werk eines der wichtigsten zeitgenössischen Regisseure. David Lynchs Wild at Heart wurde auf der Piazza Grande in Locarno gnadenlos ausgepfiffen. Aber das war ganz am Ende.

Angefangen hatte es im Garten des Grand Hotels. Von der Terasse der geschichtsträchtigen Tessiner Nobelabsteige am Lago Maggiore aus konnten Filmliebhaber 1946 in der Schweiz erstmals einer Lichtspielschau im Freien beiwohnen. Damit war der Grundstein gelegt für das größte Filmereignis in der Schweiz. Locarno wurde zum renomierten Festival, neben Venedig das älteste in Europa. Seitdem hat sich das intime Cineastentreffen längst zum international anerkannten Filmwettbewerb gemausert. Jahr für Jahr versuchen die Organisatoren den Spagat zwischen publikumswirksamen Open -Air-Kinoereignis und sperriger Filmdebütantenkür. Laut Wettbewerbsreglement sind ausschließlich Spielfilme „neuer Filmemacher“ teilnahmeberechtigt, was bedeutet, das nur erste, zweite oder ausnahmsweise auch einmal dritte Filme eines Regisseurs ins Rennen geschickt werden dürfen. Neorealismo, Nouvelle Vague, neuer deutscher Film, Schaufenster Osteuropa, Ethnowelle - daß man mit dem jugendlichem Anspruch in den nicht nur filmgeschichtlich aufregenden 50er, 60er und 70er Jahren wichtige Akzente setzte, beweist ein Blick auf die Liste der ausgezeichneten Regisseure: Rene Clair, Roberto Rossellini, John Ford, Vittorio De Sica, Stanley Kubrick, Claude Chabrol, Michelangelo Antonioni, Milos Forman, George Lucas, Istvan Szabo, Fredi M. Murer, Spike Lee, Jim Jarmusch...

In diesem Jahr wollte es mit der Prominenz nicht so recht klappen. Bei der Besetzung der Festivaljury passierte die erste große Panne. Dem nur mit mehr oder weniger bekannten Namen wie Michel Ciment (französischer Filmkritiker), Werner Düggelin (Schweizer Theaterregisseur), Abbas Kiarostami (iranischer Regisseur), Grytzko Mascioni (Schweizer Schriftsteller und TV-Autor), Mirnal Sen (indischer Regisseur) und Alexandr Sokurow (sowjetischer Regisseur) besetzten Gremium sollte Nastassja Kinski den medienwirksamen Glanz verleihen. Unter der Hand wurde vorab schon gemunkelt, die schöne Schauspielerin hätte ihre weibliche Solorolle in der achtköpfigen Runde zur Teilnahmebedingung gemacht. Trotzdem mußte das Gruppenbild beim Eröffnungsempfang ohne die kapriziöse Dame gemacht werden. Am darauffolgenden Tag dann die endgültige Wahrheit: Die Kinski kommt nicht. Als Ersatzfrau wurde eilends die Züricher Kunstkritikerin Bice Curiger bestellt.

Es gab noch andere Personalprobleme. Zum zweiten Mal wurde in Locarno neben den traditionellen Goldenen, Silbernen und Bronzenen Leoparden ein Ehrenpreis für das Lebenswerk eines verdienten Filmkünstlers verliehen. Auch dabei spielt die Medienwirksamkeit keine unwesentliche Rolle. Denn der Schweizer RegnierVerlag, der den mit 10.000 Franken dotierten Ehrenpreis stiftet, erhofft sich mit der publicityträchtigen Präsentation eines Filmstars auch PR -Erfolge für seine Boulevardprodukte ('Blick‘, 'Teleclub‘). Letztes Jahr nahm Enrico Morricone im Blitzlichtgewitter auf der Piazza Grande den „Pardo D'Honore“ entgegen. Diesmal nun sollte es Dirk Bogarde sein, dessen sensible Schauspielkunst in Bertrand Taverniers Film Daddy Nostalgie in Locarno bewundert werden konnte. Er fühlte sich durch diese Wahl zwar geehrt, signalisierte aber im Vorfeld bereits, daß er die Trophäe nicht persönlich in Empfang nehmen könne. Also wurde ein neuer Star gesucht und in dem italienischen Schauspieler Gian Maria Volonte gefunden. Aber um die Gesundheit des Geehrten steht es nicht zum besten: Auf dem Festival konnten die Zuschauer dann zwar der Weltpremiere seines letzten Films beiwohnen, Porte Aperte von Gianni Amelio, den leibhaftigen Star aber bekamen sie nicht zu Gesicht.

Volonte in der Rolle des aufrechten Richters in einem Mordprozeß im faschistischen Italien um 1937 wirkte blaß und zahnlos. Allzu eindimensional und ohne rechte Kontur spielt er den immer Guten, der im Prozeß die Hintergründe der Mordserie aufklären will, während die Law-and-Order-Justiz jener Zeit nur an der schnellen Aburteilung und gnadenlosen Bestrafung des Täters als mordlüsternes Monster interessiert scheint. Regisseur Amelio deutet die zeitgeschichtlich und politisch interessanten Implikationen nur sehr oberflächlich an, anstatt die Geschichte dramatisch zuzuspitzen.

Packende Kinogeschichten waren dieses Jahr selten in Locarno. Zwar kann man von Erstlingswerken nicht absolute Perfektion erwarten, um so erfreulicher ist es jedoch, gerade in einem so angelegten Wettbewerb aufregende Entdeckungen zu machen. Aber diesmal regierte vor allem die Langeweile. Zum Beispiel der Eröffnungsfilm Leningrad, November, eine deutsch-sowjetische Koproduktion des Autorenduos Andreas Schmidt und Oleg Morozow. In dem stimmungsvoll-schönen Porträt der alten sowjetischen Hafenstadt ging die Geschichte vom entwurzelten Exilrussen, der nach Jahren wieder in die alte Heimat zurückkehrt, völlig unter.

Auch die französische Jungfilmerin Partricia Bardon lieferte mit ihrem Erstlingswerk L'Homme Imagin nur stumme Gefühlswolken, anstatt ihre Charaktere wirklich sprechen zu lassen. Besonders ärgerlich ist, daß die Regisseurin dem ältesten Thema der Welt wieder einmal nur die Variante des sich passiv verhaltenden Mädchens abgewinnt. Ihre Protagonistin steht nächtens von Schlaflosigkeit geplagt am Fenster, weint sich die Augen aus und plagt sich gar mit Suizidgedanken, weil der Angebetete, nicht mal ein attraktives Männerexemplar, sie immer nur warten läßt.

Wollte man das Wettbewerbsprogramm auf seine Gemeinsamkeiten hin überprüfen, das Motiv „Einsamkeit“ für das Erleiden filmischer Höllenqualen ließe sich am ehesten herausfiltern. Die Ursachen für das Alleinsein liegen entweder in starren gesellschaftlichen Regeln begründet, wie beispielsweise in dem marokkanischen Wettbewerbsbeitrag Badis, der das Schicksal einer Ehefrau behandelt, die versucht, aus der Enge der patriarchalischen Welt zu fliehen und am Ende doch scheitert, oder in der Übersättigung am modernen Leben: In Silvio Soldinis Film L'aria serena dell'ovest versuchen die Protagonisten durch leidenschaftslose Liebesirrungen und -wirrungen der Eintönigkeit ihres Milaneser Mittelstandsalltags zu entkommen. In der New Yorker Upper Class langweilen sich die Teenager auf nichtssagenden Parties zu Tode, jedenfalls in Whit Stillmans Debütarbeit Metropolitan. Mag sein, daß das Leben für viele Menschen tatsächlich nicht viel mehr als Langeweile und kollektive Einsamkeit zu bieten hat, ein Grund, die Filme, die davon handeln, langweilig zu inszenieren, ist das noch lange nicht.

Willkommene Abwechselung lieferten zwei Filme, die sich ausgiebig dem Thema Gewalt widmeten. Der eine, Philip Ridleys The Reflecting Skin, tat dies auf furiose, märchenhaft imposante Weise. Der Hauptdarsteller des britischen Regisseurs ist ein siebenjähriger Junge, der in der klaustrophobischen Enge des amerikanischen Mittelwestens aufwächst. Die Mutter, ein hysterischer Putzteufel, der Vater ein verkappter Päderast, um ihn herum nur monströse Erwachsene. Kein Wunder also, daß der Kleine seine eigene Interpretation für die mysteriösen Kindermorde hat, der seine Freunde, einer nach dem anderen, zum Opfer fallen. Ridley inszeniert mit großer Geste, zuweilen mit etwas zu viel Pathos. Doch vor allem weiß er, eine Geschichte spannend zu erzählen.

Der zweite Film, der in Locarno für heftige Kontroversen sorgte, war John McNaughtons Henry: Portrait of a serial killer. In Anlehnung an den realen Fall des amerikanischen Massenmörders Henry Lee Lucas präsentiert McNaughton eine blutige Gewaltorgie. Detailverliebt reiht er eine Metzgerszene an die nächste und hat dabei offensichtlich vergessen, daß ein Thriller von mehr lebt als dem literweisen Verspritzen von Blut. Des empörten Zuschauerprotests konnte er sich mit diesem Vorgehen sicher sein, ein ernst zu nehmender Film wird aus dem drittklassigen Splatter-movie darum trotzdem nicht.

Phil Ridleys Reflecting Skin erhielt in Locarno zu Recht den Silbernen Leoparden. Allerdings wurde Stillmans nichtssagendes New-Yorker Upper-Class-Geplapper ebenfalls mit Silber prämiert. Und zwischen der Qualität dieser beiden Filme liegen Welten. Gold errang die sowjetische Regisseurin Svetlana Proskourina mit ihrem Film Slauchainij vals (Zufallswalzer), ein unscheinbares Werk aus der oben beschriebenen Gattung der Einsamkeitsfilme. Die depressive Hauptdarstellerin ihres Films leidet unter der Zufälligkeit, die Menschen aneinander bindet, an unverständlichen Gewohnheiten und trostlosen Ortschaften in einer Gesellschaft, die ihre eigenen Traditionen verloren hat. Der Bronzene Leopard schließlich ging an Xavier Koller und blieb damit in der Schweiz. Im Vorfeld hatte die Schweizer Presse zwar mit Recht moniert, daß es sich bei dem erfahrenen Regisseur wohl im Sinne des Reglements nicht um einen echten Debütanten handele. Aber auf dem an echtem Kino armen Festival lieferte Koller mit Reise der Hoffnung wenigstens ein stimmiges Werk. Die dramatische Flucht einer türkischen Familie, die illegal in die Schweiz einreisen will, orientiert sich an einer authentischen Geschichte und offenbart ein Stück aktueller Schweizer Asylpolitik.

Am Ende noch ein Wort zum Cannes-Sieger David Lynch, dessen neustes Werk den Höhepunkt und gleichzeitig die Malaise des Filmfests in Locarno markierte. Auf der Piazza Grande soll den Zuschauern auf einer 22-mal-12-Meter-Leinwand während des Festivals allabendlich herausragendes Kino außerhalb des Wettbewerbs geboten werden, und das war diesmal auch bitter nötig. An keinem Abend war der Projektionsort, wo die Zuschauer an den voran gegangenen Tagen ein indisches Drei -Stunden-Epos ebenso kritiklos über sich ergehen ließen wie Amelios flaue Gerichtsfilmvariante, so gut gewählt wie bei Lynchs Wild at Heart. Vom ersten brennenden Streichholz in Großaufnahme bis zur ironisch-kitschigen Abschlußsequenz tobte ein cineastischer Wirbelsturm über die Piazza. Trotzdem (oder vielleicht gerade darum?) wurde nach dieser Vorstellung gnadenlos gepfiffen und gebuht. Die Schweizer sind wirklich merkwürdige Leute.