Deutsche Einheit und doppelte Moral

■ Von der Umwertung aller Werte in der Post-DDR / Die Moralunion steht noch aus / Die Ehe in der DDR nicht Lebens-, sondern Überlebensgemeinschaft / Gruppenbild mit Anbauwand im Arbeiterschließfach der Satellitenstädte

Aus Ost-Berlin Ralf Schuler

Die Unionen hecken in dieser Zeit schneller als die Kaninchen. Neben Altlasten wie christlich-demokratischen oder sozialen Unionen zeugen erst unlängst geschlüpfte Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunionen mittlerweile ihrerseits mehr oder minder normalwüchsige Jungen. Hinzu kommen Fahndungs-, Steuer-, Post-, Mitmach-, Verjährungs und Analunion, zum Schluß dann die Totalunion...

Die Moralunion indessen steht noch aus, ist aber, wie im Grunde alles in diesen unseren deutschen Landen, vermutlich bereits „angedacht“. Das heißt, wer bringt was ein und wen zur Strecke. Leider hat auch in Sachen Moral jenes mittlerweile nur noch von nimmermüden Fernsehmoderatoren lauthals gepriesene Ereignis, das manche Revolution nennen, die traute Ordnung der Germanen zerstört.

Dahin sind die Zeiten, da man frei von der proletarischen Seele weg formulieren konnte: „Da sich unter den Bedingungen der antagonistischen Klassengesellschaft die Kluft zwischen den als allgemein gültig postulierten Sittennormen und der moralischen Praxis nicht schließen läßt und da sich insbesondere der Kapitalismus als Feind und Zerstörer aller positiven moralischen und allgemeinmenschlichen Werte erweist“, verschleiert die bürgerliche Moral Wesen und Klassengebundenheit aller Ethik...

Ja, früher, da war der unerschütterliche Erkenntnisoptimismus und die einzig gesunde und nicht gespaltene Klassenmoral des Proletariats auf unserer - des Ostens - Seite. Unverständlicherweise dürfen wir die aber wohl nicht in ein geeintes Deutschland „einbringen“, sondern sollen die geteilte bürgerliche übernehmen - wer blickt denn da noch durch?! Immerhin war die hohe Moral des Sozialismus soweit gediehen, daß nicht nur die ehemaligen Machthaber und Machtteilhaber heute bei jeder neuen Enthüllung peinlich berührt und schamhaft zu Boden sehen, sondern auch die glorreichen, mit den Füßen gen Westen kämpfenden Revolutionäre des vergangenen Herbstes hin und wieder, selbstverständlich von moralischer Verantwortung für die Freiheit und ihr Volk getrieben, sich ohne Rücksicht auf Frau und Kinder davonmachen. Notstand brach in den Kinderheimen aus, wegen spontan zurückgelassener Kinder, die man im goldenen Westen nur lästig hätte durchfüttern müssen.

Doch Moral-Ost und Moral-West sind in der Tat so leicht nicht zu vereinen, wenn man einmal von einem recht personalstarken Stamm von Verwaltern moralischer Freihandelszonen und Bewohnern ethischen Niemandslands absieht. Beiderseits der Grenze übrigens.

Im Osten muß man sich zunächst daran gewöhnen, die Moral, die früher zu großen Teilen personengebunden dahinsiechte, an Institutionen abzugeben. Denn obgleich der Staat die sittliche Oberhoheit zu besitzen vorgab - an höchster Stelle wurden beispielsweise sogar die Grenzen erotischer Revuen beschlossen -, lag es doch an jedem selbst, sich dieser Moral anheimzugeben oder ihr zu trotzen. Das heißt, der Handelsmann, der im Westen ausschließlich dem Geschäfte dient und dem alles erlaubt ist, was man nicht gesetzlich verboten hat, mußte in der alten DDR sehr wohl entscheiden, die Fahne vor den Laden zu hängen oder nicht. Moralischen Erwägungen war jeder einzeln ausgesetzt und konnte sich nicht aufs rein Dienstliche berufen. Der allgegenwärtige Zwang nötigte zum Bekenntnis.

Doch das wird ja nun, Gott sei Dank, anders. Nach der endgültigen Moralunion, deren Termin noch nicht feststeht, zählt nur noch der Gewinn, nicht länger sind Anstand und Absatz peinlich vermischt. Betreten blickten die Journalisten aus der DDR über den brechend-reichlich gedeckten Tisch während eines dreitägigen Frankfurt -Aufenthalts, zu dem die zweitgrößte deutsche Bank uneigennützig, versteht sich - ihr sympathisch-grünes Band um sie geschlungen hatte. Da erklärte nämlich ein Vorstandsmitglied, natürlich ginge er für die Abrüstung auf die Straße, doch ebenso unterzeichne er am folgenden Tage einen Rüstungskredit. Es sei nicht an ihm, moralische Entscheidungen zu treffen, das müsse schon die Gesetzgebung tun. Da kamen wir nun aus einem Lande, in dem alles schiefgegangen war, weil keiner tat, was er dachte, und blickten in die Zukunft, in der gleiches üblich sein würde, nur anders motiviert.

Und Beate Uhse sagte im Interview, daß ihr die Haare zu Berge stünden bei Sex mit Kindern und Tieren: Nur gut, daß dies in der Bundesrepublik verboten sei. Und wenn nicht? Da will sie sich jetzt nicht festlegen, und jeder weiß, daß sie Geschäftsfrau ist und ebensolches in ihr Sortiment mitaufnähme... Die Moral verwaltet die Regierung.

Und die Zeitungsfrau in der DDR, die sich dagegen wehrt, Sex-Illustrierte verkaufen zu müssen, wird bald lernen, sich „marktgerecht“ zu verhalten. Früher war es nur linientreu.

Eine andere Moralinstitution, die Ehe, war in der DDR schon immer eher Überlebens- denn Lebensgemeinschaft. Doch auch ihr oft besungener Hafen bröckelt. Nicht nur, daß man mit zwiefachem Gelde besser die Hürden von Exquisit und Delikat, von Genex-Autos und zu schmierenden Handwerkern nehmen konnte, auch das Netz der Beziehungen potenzierte sich mit der intimen Vereinigung. Wer gekonnt seine Bekannten, Freunde und Verwandten mit den ihren zu verflechten wußte, schuf sich ein relativ sicheres Fundament für alle Schicksalsschläge und Notsituationen, die sich so einstellen konnten - und gewann obendrein meist noch bei entsprechender Cleverneß überdurchschnittliche Annehmlichkeiten.

Wenngleich auch die durchreisenden Wessis staunten, daß man mit zwanzig in der DDR früher meist schon unter der Haube war, Kinder morgens zur Krippe zerrte und am Wochenende zu den Schwiegereltern fuhr, so war es doch, wie Statistiken auswiesen, nur in seltenen Fällen der Tod, der die beiden auf ewig Verbundenen schied. Die Scheidungsrichter hatten alle Hände voll zu tun, weil mancher und manche eben ein wenig zu viel Hektik an den Tag gelegt hatten bei der Krisenfusion. Die Lage innerhalb der Mauern machte den Notverband obendrein noch leicht: Reisen war nicht drin. Sich selbst oder die Welt in wilden Wanderjahren zu erfahren, ließ sich nicht machen im durchgeplanten Zügelregime, und Singledasein war triste. Wo anders also fand man sein kleines Glück als in der Ehe? Das große Glück lag irgendwo auf den Yachten vor der Cote d'Azur in der Sonne, jettete von einem Kontinent zum anderen, blieb unerreichbar wie die Westverwandten, die dem jungen Paar nun doppelt von der Steuer absetzbare Pakete schickten.

Das Unbehagen jedoch, das allseits auf die Leute ihrer engen Verhältnisse wegen drückte, ließ auch so manche Zweiergemeinschaft vorfristig platzen. Die zu große Eile bei der Liierung war nur ein Faktor, die Moral in der Ehe hing auch im Osten nicht höher, als die vom Westen vorgelebte Ausschweifsucht dies zuließ. Oftmals fand man/frau Besseres mit der Zeit und glaubte das Glück verschenkt an einen tumben Nichtsnutz oder eine gar so alltägliche Schönheit. Der Alkoholkonsum wuchs überdies und machte so mancher Ehebettidylle den Garaus.

Die staatlichen Maßnahmen zur Förderung der Familie griffen anfangs auch ganz gut, nur mußte jedem natürlichen Gefühl die Sackgasse früher oder später zu Bewußtsein kommen, in die man laviert wurde. Der günstige Ehekredit und die Neubauwohnung liefen ebenso auf ein frühes Endstadium hinaus wie das Kindergeld, das zu üppiger Fruchtbarkeit anregen sollte. Mutterjahr, Kinderkrippen und Kündigungsschutz reihten sich ein. Wenn alles gut lief, konnte man sich mit 25 eingerichtet haben wie andere mit fünfzig - Endstation, Gruppenbild vor der Anbauwand im Arbeiterschließfach der Satellitenstädte.

Der Ausbruch aus diesem obrigkeitlicherseits festgelegten Programm war nur eine Frage der Zeit. Und die ist jetzt gekommen. Es wird nicht lange dauern, da haben sich die Lebensweisen in Ost und West angeglichen. Entscheiden wird am Ende höchstwahrscheinlich das Geld: Rechnet sich ein doppelter Single-Haushalt besser oder ein staatlich geförderter mit Trauschein? Da sind wir sehr anpassungsfähig...