Spaniens Jugendliche: Freiheit ohne Proteste

■ Die Bewohner des Nobelviertels Argüelles haben eine Schlacht gewonnen, doch den Krieg verloren / Die frankistische Moral hat weitgehend ausgespielt / Doch auch die Aufbruchgeneration spielt keine Rolle mehr / Amüsieren heißt die Devise

Aus Madrid Antje Bauer

Irgendwann hatten die Bewohner des Madrider Nobelviertels Argüelles die Faxen dicke. Tausende Jugendlicher, so teilten sie dem Bürgermeister mit, seien an jedem Wochenende in ihrem Viertel unterwegs. Nicht nur alle Kneipen seien brechend voll, so daß man keinen Fuß mehr hineinkriege - sie stünden mit Einliter-Bierflaschen bewehrt in Trauben auf den Straßen und behinderten den Verkehr.

Darüber hinaus, so beschwerten sich die Bewohner, kennen diese Jugendlichen offenbar keine Scham, denn man könne sie an Autos und Laternenpfähle gelehnt oder in Hauseingängen bei ausgesprochen unzüchtigen Handlungen beobachten.

Sie seien nicht länger gewillt, warnten die anständigen Bürger von Argüelles, untätig zuzusehen, wie Jugendliche auf offener Straße wie Hunde miteinander koitieren und dadurch die Kinder verderben. Als die städtische Polizei dem unmoralischen Treiben nicht unverzüglich Einhalt gebot, schritten die aufgebrachten Bürger zur Tat, und an mehreren Wochenenden gab es Prügel im sonst so friedlichen Viertel.

Inzwischen werden die Kneipen stärker kontrolliert, Polizei patrouilliert am Wochenende auf den Straßen, und die Bürger laufen nicht mehr Gefahr, beim Gassigehen über knutschende Jugendliche zu stolpern. Dennoch dürften sie mit ihrem Sieg nicht so recht zufrieden sein. Denn eigentlich ging es ihnen weniger um Verkehrsberuhigung als um die Moral. Und die scheint, mal gerade 15 Jahre nach den Tod des Caudillo, durch polizeiliche Eingriffe nicht mehr herstellbar zu sein.

Während seiner Regierungszeit war es dem Diktator Franco mit viel Erziehungsaufwand gelungen, in Spanien die alte, muffige katholische Doppelmoral zu erhalten und mit einigen falangistischen Zutaten zu versehen. Junge Mädchen hatten im Haushalt zu helfen, wenig - und nur mit Gleichgeschlechtlichen - auszugehen und auf einen angemessenen Ehemann zu warten. Einmal verheiratet, sollten sie in „enthusiastischer Stille“ ihre Arbeit als Hausfrau und Mutter verrichten und für die menschlichen Schwächen des Ehemanns möglichst viel Verständnis aufbringen. Doch wenn die Realität schon immer erheblich hinter dem Ideal hergehinkt war, so hatte sich Francos Wunschvorstellung vor allem nach 1968 zunehmend verflüchtigt.

Auch im isolierten Spanien waren Jugendliche den Wegen der Protestler gefolgt, hatten Shit geraucht und ihre Eltern verlassen - häufig freilich zu einem höheren Preis als in den meisten anderen westeuropäischen Ländern. „Sowie ich volljährig war, zog ich von zu Hause aus“, erzählt die Schriftstellerin Rosa Montero. „Es war ein Drama: Meine Eltern heulten, ich heulte, und ein Jahr lang sprachen wir nicht mehr miteinander.“

Die Teenagergeneration der achtziger Jahre führt weniger heftige Auseinandersetzungen. Die meisten Eltern gehören heute entweder selber zur Protestgeneration oder haben resigniert.

Der Einfluß der Kirche ist gesunken - was sich jedes Jahr am mageren Kirchenobulus ablesen läßt, den die Spanier abtreten. Das öffentliche Erziehungswesen setzt mehr auf das Lernen von Computersprachen als auf Moral.

Aber auch die Jugendlichen haben sich geändert. Zwar verbringen sie bereits im Alter von fünfzehn Jahren die Nächte in Diskos und Kneipen, doch die nächtlichen Ausbrüche haben keinen Protestcharakter mehr. Viele ziehen es vor, weiterhin im Elternhaus zu wohnen, auch wenn sie volljährig sind: „Bis ich dreißig war, habe ich zu Hause gewohnt“, sagt Trinidad. „Meine Mutter kochte und kümmerte sich um meine Wäsche und mischte sich ansonsten nicht in mein Leben ein. Ich kam und ging, wann ich wollte.“

Daß die Wohnungsmieten in den spanischen Großstädten inzwischen schwindelerregende Höhen erreicht haben, trägt zu dieser neuen Anhänglichkeit bei.

Neue Arten des Zusammenlebens werden nicht mehr ausprobiert. Das war eine Angelegenheit der Protestler. Wohngemeinschaften existieren fast nur als Zweckgemeinschaften, um die Miete aufzuteilen.

Auch in den Liebesbeziehungen hat ein neuer Pragmatismus Einzug gehalten, dem freilich die Spuren der Vergangenheit noch anhaften. Das Alter, in dem Jugendliche zum ersten Mal vögeln, sinke weiterhin, melden Soziologen in regelmäßigen Abständen. Die Angst vor der Sexualität, die im Frankismus gepflegt worden war, hat abgenommen.

Maria, eine junge Christin, die ihren Katholizismus pflegt und so oft wie möglich zu Papstbesuchen reist, hält die Sexualmoral der Kirche für veraltet. „Ich gehe regelmäßig in die Messe“, sagt sie, „aber daß der Priester sagt, Mädchen sollen unberührt in die Ehe gehen, finde ich Quatsch.“

Gleichzeitig steigt jedoch auch die Zahl der unerwünschten Schwangerschaften: Noch immer gibt es in den Schulen keine Sexualaufklärung, die wenigsten Jugendlichen werden über Empfängnisverhütung informiert. Auch im modernen Spanien ist dieses Thema weitgehend tabu. Wer Bescheid weiß, zieht dennoch häufig keine Konsequenz daraus: Kondome gelten als unbequem, und die Mädchen haben keine Lust auf Diskussionen mit den Jungs.

Die Movida, jener neue, vor allem nächtliche Enthusiasmus, der Anfang der achtziger Jahre Madrid bewegte und noch heute als Mythos durch die Köpfe vieler Spanienliebhaber geistert, brachte neue Frauen hervor, die unabhängig sein und sich amüsieren wollten und auf die alte Moral scheinbar pfiffen.

Doch von diesem Aufbruch zu neuen Ufern ist wenig übriggeblieben. Die Protestgeneration heiratet heute, weil es „an Bedeutung verloren hat, es nicht zu tun“, sagt Rosa Montero, und die junge Generation heiratet, weil sie nie etwas dagegen hatte - allerdings ein bißchen später als vor fünfzig Jahren. Zuerst muß eine Wohnung, ein Fernseher und ein Mikrowellenherd angeschafft werden, dann kommt das Kind dran.

Spanien wird zunehmend europäisch. Die Bürger von Argüelles haben die Schlacht gewonnen, aber den Krieg verloren.