Vorsätzlicher Totschlag

■ Zum allgemeinen „Verkehrsgeschehen“ in der DDR

KOMMENTARE

Am Ende dieses Jahres werden auf den Straßen der DDR doppelt soviele Menschen gestorben sein wie im schlimmsten Verkehrsjahr 1977. Und schon heute sind in der DDR durch die Folgen der Vereinigung mehr Menschen umgekommen, als in 40 Jahren am sogenannten Todesstreifen. Unbequeme Wahrheiten bleiben doch Wahrheiten.

Die Verantwortlichen der DDR, von den Polizei-Direktoren bis hin zu Verkehrsminister Giebtner reagieren auf das anhaltende Gemetzel auf ihren Straßen vorwiegend mit buchführerischen Maßnahmen. Mustergültig werden die Todes und Verletztenzahlen detailliert aufgeschlüsselt und bis hinters Komma nach Ursachen, Verkehrsteilnehmern und West oder Ost-Autos erfaßt. Eine Orgie von Zahlen, die verdächtig ist. Denn je hilfloser man einer Situation gegenübersteht, um so mehr versucht man durch korrekte Zahlenreihen vorzutäuschen, die brenzlige Lage im Griff zu haben. Doch die inzwischen fast allmonatlich mit sorgenvoller Miene und schlimmen Zahlen präsentierte Verkehrsbilanz droht zu einem ähnlichen Ritual zu werden, wie die im festen Rhythmus überschwappende Nürnberger Arbeitslosenwelle oder die Bonner Zählerei der entnadelten Fichten. Nur: Beim Straßenverkehr geht es um Tote und Verletzte.

Die als Reaktion auf die dramatische Entwicklung angekündigten Verkehrssicherheitstourneen „in den acht großen Städten der DDR“ und die Mobilisierung von Jugendverkehrsschulen taugen angesichts der realen Situation nicht einmal als Lacher. Jeder weiß, daß in Wahrheit drastische Maßnahmen zur Zähmung des Autos notwendig sind. Daß in der DDR noch immer niemand den Mut findet, auf den Tisch zu hauen und sich gegen das Verkehrswildwest zu wehren, ist Ausdruck der unverändert armseligen demokratischen Courage. Wer darauf wartet, daß endlich einer der Männer an der Polizei-Front Tacheles redet und der Zimmermann-ADAC-Gang übers Maul fährt, kann lange warten.

Die aus Bonn importierte Abschaffung des Tempolimits, die schon heute faktisch vollzogen und ein wichtiger Grund für die deprimierende Verkehrsbilanz ist, bedeutet nichts anderes als vorsätzlichen Totschlag. Aber sie ist kein Naturgesetz: Man kann und man muß sich dagegen wehren. Ängstlich in die alte sozialistische Obrigkeitshöhle verkrochen, kann man keine Verkehrsprobleme lösen.

Manfred Kriener