Die Probleme laufen davon

■ Der Appell der DDR-Sozialministerin Hildebrandt

Die DDR-Arbeits- und Sozialministerin Hildebrandt verteidigt die Errungenschaften des November, die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Öffnung in der DDR. Und sie hofft auf den wirtschaftlichen Aufschwung, der nach einer befristeten Durststrecke die sozialen Probleme des Übergangs lösen soll. Und doch schlägt die Ministerin jetzt Alarm. Denn die Lawine, die mit der Währungsunion vom 1. Juli und der unvermittelten Einführung der Marktwirtschaft in der DDR losgetreten wurde, droht die Menschen in der zu überrollen.

Ganz offensichtlich wird - sechs Wochen nach Einführung der Währungsunion - die krasse Diskrepanz zwischen den beschränkten sozialpolitischen Steuerungsmöglichkeiten der DDR-Administration und der Dimension des sozialen Problems. Die Arbeitslosigkeit in der DDR liegt schon jetzt bei mindestens einer Million, auch wenn einige Schönfärber in der DDR-Regierung das noch nicht wahrhaben wollen. Das Angebot an Umschulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen für Arbeitslose bzw. akut von Arbeitslosigkeit Bedrohte liegt gerade mal bei knapp 35.000. Auch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen erfassen nur einen Bruchteil der von Arbeitslosigkeit Betroffenen. Und die Beschäftigungsgesellschaften in den Betrieben, auf die Frau Hildebrandt viele Hoffnungen gesetzt hatte, gibt es bislang nur auf dem Papier.

Die für die DDR konzipierten sozialen Abfederungsstrategien greifen also nicht, obwohl sie im Vergleich zur Bundesrepublik erweiterte Möglichkeiten bieten. Und sie können auch gar nicht greifen, wenn die wirtschaftliche Basis, auf die alle soziale Sicherung letztlich aufbauen muß, rapide zerfällt. DDR-Betriebe, die nicht wenigstens einen Silberstreif am Horizont für sich entdecken können, werden natürlich keine Beschäftigungsgesellschaft initiieren, mit der sich die Beschäftigten für eine gewisse Zeit in sozial abgesicherter Form auf ihre neue Zukunft vorbereiten können. Und die besten Umschulungsmaßnahmen werden den Menschen nicht zu einem neuen Arbeitsplatz verhelfen, wenn diese nicht mehr vorhanden sind. Auch das Instrument der Kurzarbeit läßt sich nur für begrenzte Zeit handhaben, wenn nicht wenigstens im Ansatz reale neue Beschäftigung entsteht. Das alles setzt Geld, viel Geld voraus, das nach Lage der Dinge nur aus der Bundesrepublik kommen kann: von der Wirtschaft, die in der DDR endlich investieren muß, anstatt nur zu verkaufen; vom Staat, der sich endlich realistisch den sozialen Kosten des Übergangs zur Marktwirtschaft stellen muß. Wenn es nicht kommt, werden in den nächsten Monaten und Jahren Millionen Menschen trotz aller Appelle von Frau Hildebrandt ohne soziale Abfederung hart auf den Boden der Marktwirtschaft aufprallen.

Martin Kempe