Lukas, 21, Soziopath

■ Eine Frontberichterstattung von Carola Wimmer und Claudius Hagemeister

In einer Zeit des erbarmungslosen Paradigmenwechsels muß auch der Begriff der Freiheit einer umfassenden Revision unterzogen werden. Zum Beispiel glaubt Lukas - Bella kennt ihn: er ist immer guter Dinge und behelligt jeden mit seinen Meinungen -, das größte Glück läge in der absoluten, uneingeschränkten Freiheit, einer Freiheit, die nur durch den bedingungslosen Verzicht auf Gemeinsamkeiten erreicht werden könne.

Manchmal manövriert er sich damit ins ultrarechte Lager, ist manchmal Idealist oder - je nachdem - auch Materialist, Anarchist, Christdemokrat, Sozialist, vor allem aber Nihilist. Zeitweilig wußte er allerdings überhaupt nicht mehr, wer er ist oder was ist und was nicht ist.

Ein halbes Jahr lang lebte er in völliger geistiger Verwirrung. So vegetierte er dahin, verlor einen großen Teil seiner Selbständigkeit und büßte seine vielgeliebte Freiheit ein. Jetzt ist er bemüht, Abstand zu seiner Logikwelt herzustellen. Deshalb betätigt er sich als Provokateur. Lukas erhofft sich einen schönen Abend. Mit einer Selbstdarstellung will er Marlies umwerben, um sie dann in privater Atmosphäre - bei sich zu Hause - zu einem hysterischen Anfall zu provozieren.

Marlies‘ bereits strapaziertes Nervenkostüm liegt offen zu Tage; und, wie sollte es auch anders sein, ohne weitere Anstrengungen gelingt es Lukas, sie zu einem Kaffee einzuladen. Er hakt sich bei Marlies unter, der allmählich dämmert, daß sie wohl nicht nur Lukas‘ Bücherregale ansichtig werden wird. Ungünstig ist nur die nicht zu leugnende Anwesenheit des Bruders Töchterchen. Da diese aber um 18 Uhr bei ihm abgeholt werden wird, muß er Marlies derweil anders unterhalten. Sie wird seine Zurückhaltung als charmant auslegen und ihm für diese romantische Verzögerung dankbar sein.

Eigentlich schätzt Marlies „Romanzen“ wenig, weil sie spürt, daß ein solches männliches Interesse sich nur auf ihre Unterlegenheit gründet. Bei ihm zu Hause angelangt, kocht er sogleich Kaffee und erklärt plaudernd, er habe sofort bemerkt, daß sie sich verstehen werden. Es wäre nämlich so, daß begattungswillige Paare einen Hang zu synchronen Bewegungen haben: Sie hätten sich zur gleichen Zeit am Kopf gekratzt und wenig später gemeinsam die Haltung verändert!

Marlies wirft sich in einen Sessel und lehnt sich weit zurück, um mit großspurigen Gesten entspannt zu wirken. Er setzt sich zu ihr auf die Lehne. Sie ist einen Augenblick lang unachtsam und drückt zeitgleich mit ihm die Zigarette aus. Nachdem es an der Tür geklingelt und er sich der lästigen Nichte entledigt hat, beginnt er schamlos, sie abzugreifen.

Angenehm überrascht ist sie ja, denn eine solche Grobheit kommt selten genug vor. Aber so recht entspannen kann sie sich nicht, da sie ihn irgendwann auf ein Verhütungsmittel anzusprechen hat. Dennoch geben sie sich recht unbefangen und rutschen allmählich auf den Fußboden, weil dort ein wesentlich größerer Spielraum vorhanden ist. Zärtlich flüstert sie ihm ins Ohr: „Du, gleich stech‘ ich dir mit dem Absatz ein Auge aus!“ - „Bitte das linke!“ stöhnt er, hält aber, rein prophylaktisch, ihre Hände fest. Ein kleiner, nicht reizloser Kampf um das Erreichen der an den Füßen sitzenden Schuhe endet damit, daß diese unerreichbar auf dem Schrank landen. Marlies denkt an die feiste Negerin mit den lila Brustwarzen und den wulstigen lila Lippenstiftlappen, die ölig glänzen. Und an die fleischigen Arme, von denen sie umschlossen ist. Die lila Fingernägel stecken zwischen ihren Rippen.

Lukas scheint ein starkes Bedürfnis nach ihren Achselhöhlen zu verspüren, welches sie allmählich zu nerven beginnt. Das zieht nach sich, daß sie den Zeitpunkt als angemessen empfindet, ihren Hinweis auf Verhütung loszuwerden. Wortlos kramt Lukas aus einer Schublade den Markenqualitätsgummi hervor, der in einem weltmännischen Junggesellenhaushalt niemals fehlen sollte. Die ersten zwei Minuten empfindet sie noch als äußerst lustvoll, als sie aber bemerkt, daß Lukas ein sehr ausdauernder Liebhaber zu sein scheint, hofft sie mit geschlossenen Augen auf ein baldiges Ende. Da sich dieses aber ohne ihr Zutun nicht sehr schnell einstellen wird, strengt sie sich ernsthaft an, und so ist es kein Wunder, daß sie anschließend erschöpft niedersinkt, was Lukas mit Befriedigung vermerkt.

Film Noir

Marlies geht. Lukas‘ unbefriedigter Intellekt treibt ihn in die Berliner Nacht.

Die Situation könnte einem dieser lakonischen Filme entstammen, in denen wortkarge Typen graue Stadtlandschaften entlangschlendern, von heimlicher Sehnsucht und urbaner Melancholie durchdrungen, während Düsterkeit und Schatten Stadt und Stirn umwölken - der Himmel so verhangen wie der Blick des Protagonisten.

Er verachtet Frauen. Das ist kein immerwährender Zustand, momentan aber unbedingt zutreffend. Im allgemeinen ist er davon überzeugt, daß Frauen der musterhaften Vollkommenheit geistiger Entwürfe vom Mensch-Sein wesentlich näherkommen als Männer, daß Männer viel mehr als Frauen von animalischer Triebhaftigkeit und von niederen Instinkten bestimmt sind, die allen Vorstellungen der Menschheit vom Soll-Zustand ihrer selbst blockierend entgegengesetzt sind. Zumindest glaubt er, diese Erkenntnis aus der Summe seiner Beobachtungen - vor allem seiner dauernden Selbstanalysen schöpfen zu können. Manchmal tröstet ihn die seiner Phantasie entsprungene Annahme, nach seinem Tod als Mädchen wiedergeboren zu werden, um sich dann, nach abermaligem Ableben, wissend im blumig-bunten Facettenreichtum der gesamten Menschheit sanft sinken lassen zu können. Er assoziiert „Schoß“, ein Stichwort, das einen weiteren, diesmal biologisch untermauerten Hinweis auf die unterschiedliche Nähe der Geschlechter zum Menschentum darstellen könnte. Momentan verachtet er Frauen, weil sie sich ihm zugeneigt zeigen, wenn er „guter Dinge“, wenn er freundlich, ausgeglichen, selbstsicher, leutselig leutselig! Igitt! - wenn er also gesichtslos, fleischlos, charakterlos und identitätslos zu sein vorgibt; weil ihr Interesse ihm und anderen gegenüber nur auf vordergründigen Betrachtungen basiert; weil also Erfolgserlebnisse bei ihnen Unaufrichtigkeit zur Voraussetzung haben. Vermeintliche Ausgeglichenheit ist nichts anderes, befindet Lukas, als ein Mangel an der Fähigkeit, die einem innewohnenden Widersprüche zu erkennen, vermeintliche Selbstsicherheit nichts anderes als die Abwesenheit von Selbstkritik, als Selbstgefälligkeit.

Immer energischer tretend, mit zunehmendem Tempo und anschwellender Lautstärke, nagelt er diese Ansichten in den Asphalt. Wollüstig rankt er sich am Eingeständnis seiner Unaufrichtigkeit empor. Er ist richtig besoffen vom Zorn, bis er plötzlich bemerkt, daß er durch die hohe Einschätzung gradueller Intensität von Erkenntnis- und Kritikfähigkeit betreffend sich selbst eine schamlose Aufwertung seiner Person, daß er Masturbation betreibt - Masturbation mit dem Messer, aber eben doch nur Masturbation. Ihn ereilt also die Einsicht in die Unaufrichtigkeit ... was sich ewig fortsetzen ließe, bis NICHTS von ihm übriggeblieben sein würde.

Ihm wird schwindelig, er verspürt den unangenehmen Geschmack eines üblen bittersäuerlichen Aufstoßens im Mund und eine Faust im Magen, von innen. In der Toilette einer Bar unternimmt er Wiederbelebungsversuche, indem er sich mit kaltem Wasser bespritzt. Das nützt, bemerkt er, wäscht sich bei der Gelegenheit die schweißnassen Hände und betrachtet sich im Spiegel. „Mir bleibt nur noch die Möglichkeit“, beschließt das Nichts seine Autopsie, „meine Nichtigkeit hinter rhetorischen Fassaden zu verbergen“, und der Seifenspender spendet Seife, die so aussieht und sich anfühlt wie Sperma. Abgeklärt und trotzig grinst er sich entgegen und plant. Mit Kalkül plant er ein verbales Attentat.

Progressiv bis

zum Kollaps

Lukas erwählt, um unerhörte Äußerungen zum Weltproblem von sich geben zu können, einen ihm flüchtig bekannten Typen, der in der Ecke stehend bemüht ist, möglichst gelassen zu erscheinen. Er trägt eine schwarze Lederjacke, eine enge schwarze Hose, undefinierbare Schuhe und erweckt keineswegs den Eindruck der Gelassenheit, sondern ausschließlich den, als sei er im Begriff, sofort einzuschlafen. Bereits nachdem er ihn unter Anwendung einer völlig belanglosen Floskel angeredet hat, ist er sich seines Erfolges sicher.

Voraussetzung ist allerdings ein kluges und didaktisches Vorgehen, weil dem Angesprochenen nicht übermäßig viel Intelligenz zuzutrauen ist. Würde Lukas David genauer kennen, so wüßte er natürlich, daß dieser keineswegs so introvertiert oder gar befangen noch wortkarg ist - er ist Mitglied einer Laienspielgruppe! Aber diesem energischen Menschen weiß David nichts Vernünftiges zu erwidern. Zumindest nichts, was ihm im nachhinein nicht peinlich wäre.

Der Energische erklärt: „Ich habe da eine interessante These, die exakt mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen übereinstimmt. Trotz ihrer verneinenden Tendenz würde sie einen Sinn in unser trostloses, belangloses und wertloses Los bringen. Möchtest du sie hören?“ David will, was er mit einem für sein Empfinden etwas zu heftigem Nicken bekundet. Lukas fühlt sich sehr wohl in der Rolle des vorgeblichen Erleuchters. „Sieh!“, so spricht der Prophet, „du hast einen Verstand und du hast Hände, nicht wahr? Dieser Verstand ist mehr oder weniger stark begrenzt. Alles ist begrenzt! Auch die Zeit!“ - Kunstpause - „Was geschieht also innerhalb dieser Grenzen? Gott hat dir einen Verstand gegeben, damit du denkst. Alles, was du nicht denken sollst, liegt außerhalb dieser Grenzen deines Denkvermögens. Ist doch einleuchtend, oder? Also, daraus ergibt sich die erste Frage: Kann ich alles, was erdenklich ist, auch tun? Natürlich kannst du! Wofür sonst hat du deine Hände! Jetzt die zweite Frage: Darf ich alles, was erdenklich ist, auch tun?“

„Nein!“ antwortet David heftig, weil er sich als aufmerksamer Zuhörer profilieren will. „Doch!“ ruft Lukas, „sieh, das Universum dehnt sich aus. Zu einer bestimmten Zeit wird es sich, naturwissenschaftlichen Gesetzen folgend, wieder zusammenziehen. Dehnt es sich jetzt gerade aus? - Ja! Was heißt das? Das Universum ist progressiv, progressiv bis zum Kollaps! Dieser eine Wendepunkt, der Anfang eines milliardenjahrelangen Endes, kann ja nichts anderes sein als ein allumfassender Kollaps. Im Prozeß der Regression müssen alle Werte und Prinzipien - das Wesen des Denkens, dem sie entspringen - neu geschaffen werden. Was ist Innovation? Progressiv! Ist es dann nicht ein kosmisches Gebot, innovativ, progressiv zu sein? - Bis zum Kollaps!“

„Ja, aber dann wäre ja schlichtweg alles erlaubt! Auch menschenfeindlicher technologischer Fortschritt und...“, stammelt David. „Ja und? Gentechnik bis zum Ende, Atomenergie bis zur infernalischen Apokalypse! Sind nicht moralische und ökologische Überlegungen konservativ, ja reaktionär? Dem Ende, der maximalen Ausdehnung, kann man nicht entgehen. Das ist das Schicksal. Ist das Schicksal nicht Gott? Solle man seinem Gott nicht dienen?“ David läßt konzentriert nachdenkend den triumphierenden Lukas stehen.

Der arme David ist verwirrt. Seine Grenzen sind so eng gehalten, daß er offensichtlich nicht recht verstehen soll. Denken soll! Statt dessen geht er nach Hause, fällt ins Bett und träumt.

Exzesse

Lukas geht zu einer Party. Unter anderem trifft er dort einen ihm langjährig bekannten Studenten, dessen Freundin sein Interesse erweckt. Deshalb unterhält sich Lukas mit den beiden. Student ist politisch, weltanschaulich, ethisch und moralisch gefestigt, eben linksradikal. Gerade empört er sich über Krawalle und Plünderungen und dergleichen, denen eine politische Zielsetzung völlig fehle.

Lukas bezieht eine Gegenposition, um seinen Kontrahenten von dieser und damit dessen Freundin von sich zu überzeugen. Protzerei mit geistiger Potenz beeindruckt Studentinnen doch stets, denkt Lukas.

„Ich beobachtete jüngst, wie es bei einer politischen Veranstaltung zu tumultartigen Zwischenfällen kam...“, lügt er. „Der Mann, der hinter dem Rednerpult stand, wurde nervös. Längst bereute er, auf die Zwischenfrage aus dem Publikum, die ihm so lästig erschienen war, diese höhnische Antwort gegeben zu haben. Er klappte den Mund auf und ließ seine Zunge in alle Richtungen zucken. Er klappte den Mund wieder zu. Das wiederholte er so lange, bis zähe Speichelströme an seinem Kinn herunter auf das Rednerpult liefen und die darauf liegenden Aktenordner durchtränkten. Das Publikum ließ sich nicht davon überzeugen. Der Mann hinter dem Rednerpult war dick. Außerdem war er sehr verwirrt, und der Saal kochte, also schwitzte er. Eine vergleichbare Situation war ihm bisher bei keinem seiner öffentlichen Auftritte begegnet. Buhrufe und beleidigungen erschollen. In Bewußtwerdung seines Amtes, seiner Stellung als staatstragende Persönlichkeit, rief der Mann hinter dem Rednerpult: 'Ruhe, oder ich lasse den Saal räumen!‘ Trotz der vielen Mikrophone und der strotzenden Lautsprechertürme verhallte der Ruf fast ungehört. Die Menschen in den vorderen Reihen bemühten sich, auf die Bühne zu drängen. Der Mann hinter dem Rednerpult überließ die Menge nun der Polizei und verschwand. Als die Polizei den Saal stürmte, platzte dieser. Die Menge stob auseinander. Mit ihr flutete eine Welle der spontanen Erregung durch die Straßen und ergriff Passanten und Einwohner. Die Polizei bemühte sich nach allen Kräften, die Ansammlungen auseinanderzutreiben, indem die Beamten traurige Schlager schmetterten. Vielen Leuten trieb das die Tränen in die Augen, danach aber meistens die Zornesröte ins Gesicht. Die Straßen wurden zerpflügt, bis wilde Rosen aus den Furchen schossen, die den Weg für die Polizisten unpassierbar machten.“

An dieser Stelle erwägte Lukas, feuerspeiende Drachen, unschuldige Prinzessinnen und heldenhafte Ritter einzuarbeiten. Bemerkend, daß das Staunen in den Augen seines Zuhörers jedoch einer gewissen Ungläubigkeit zu weichen beginnt, sieht er davon ab.

„Das Instrumentarium der Staatsgewalt wurde verstimmt, zerstört oder an sich gerissen. Immer wieder wurden die tragischen Schlager-Chöre der Polizeibeamten, bevor sie schließlich ganz verstummten, von den gemeinsamen und vereinzelten Improvisationen der aufgewühlten Menschen übertönt. Danach wandten sich diese endlich den Objekten ihrer Begierde zu. Sie nahmen sich das, was sie schon immer gebraucht oder gewünscht hatten, ohne die dafür verlangten Summen kupferner Oblaten zu hinterlassen, die den meisten ohnehin zu hoch erschienen. Die allgemeine Leidenschaft ermöglichte das. Erst am nächsten Morgen erlosch das Feuer.“

Lukas hofft, durch diese Schilderungen Exzesse zur Genüge auf ihre ästhetische Komponente reduziert zu haben - also unabhängig von politischen Zielen, Vernunft oder ethischer Rechtmäßigkeit dargestellt zu haben. Abschließend fügt er hinzu: „Natürlich sind solcherlei Exzesse jedes Maß überschreitend. Wie konnte es dazu kommen, daß sich bisher unbescholtene Bürger zu so etwas hinreißen ließen? Bisher war es den staatstragenden Persönlichkeiten durch Werbung gelungen, sich das Vertrauen des Volkes und das Volk selbst anzueignen. Die allgemeine Akzeptanz ihrer Autorität war ihnen durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit sicher gewesen. Dieses Prinzip bricht zusammen wie ein Kartenhaus, sobald die Verhöhnung der Bevölkerung in irgendeinem Moment offensichtlich wird. Ein solcher Moment reicht aus, um Exzesse ungeahnten Ausmaßes zu verursachen.“

Automatensoße

Student geht in die Küche, in der einige seiner Freunde diskutierend am Tisch sitzen, um selbige mit einer neugewonnenen Perspektive zu konfrontieren.

Dieser Erfolg läßt Lukas von Größenwahn befallen werden. Er sieht sich in die Lage versetzt, seinem Selbstbewußtsein nun den entscheidenden Stoß zum Bestwert zu verschaffen. Die Genugtuung, vorgezogen zu werden! Als er sich aber der Freundin des Studenten zuwendet, beantwortet sie seinen Monolog mit den Worten: „Ja, manchmal geschehen seltsame Dinge“, und ihr Blick entgleitet in die Ferne.

Sie hält kurz inne.

Dann scheint eine von visionären Träumen durchdrungene Seele aus ihr zu sprechen: „Ein junger Mann stolpert die Stufen hinunter in die Halle, in der ein großer Kasten steht. Dieser Kasten spendiert in einem unbewußten Ablauf Getränke und kleine Gerichte; auf Knopfdruck reagiert er unwillkürlich mit dem Ausspucken köstlicher Kleinigkeiten. Selbsttätig erfüllt er dabei sogar spezielle Verfeinerungswünsche, sofern ein weiterer Knopf gedrückt wird. Möglich gemacht durch die Vielzahl technischer Vorgänge, die der Kasten zu steuern und zu regeln in der Lage ist.“

Lukas‘ Blick stürzt von ihren in die Ferne gewandten Augen hinab. „Der junge Mann findet im letzten Moment sein Gleichgewicht wieder und verhindert dadurch eine Kollision mit dem großen Kasten. Eine solche hätte unter Umständen zu empfindlichen Beschädigungen auf beiden Seiten geführt! Aber der junge Mann schafft es!“ beruhigt sie, „seine Sohlen geben noch ein lautes Quietschen von sich und hinterlassen auf dem Linoleumboden eine dampfende Bremsspur, dann bleibt er keuchend vor dem Kasten stehen. Nach einem durch schnelles Abfahren kurzgeschlossener Gehirnbahnen zeitlich gerafftem Entscheidungsprozeß, der seine Unterlippe erzittern ließ, ordert er Tee. Er drückt den entsprechenden Knopf des großen Kastens. Noch während der Tee in einen Plastikbecher perlt, wandern die Augen des jungen Mannes den Beschriftungen der anderen Knöpfe entlang, auf der Suche nach einer aufregenden Verfeinerungsmöglichkeit. Da entdeckt er sie! - 'Automatensoße‘! Ohne darüber nachzudenken, drückt der junge Mann diesen Knopf.“ Lukas‘ auf ihr Äußeres gerichtete Konzentration läßt allmählich nach. „Stunden später“, sagt sie, „ist der große Kasten als solcher nicht mehr vorhanden. Nach dem Knopfdruck schmolz er und gurgelt nun als silbergraue Flüssigkeit mit braun- und umbrastichigen Schattierungen in der Halle. Auf der etwa zwei Meter vom Boden entfernten Oberfläche treibt die grünliche Leiche des ertrunkenen jungen Mannes. - Sie erinnert an ein Sträußchen Petersilie, das als Dekoration auf die Oberfläche einer sahnigen Soße gelegt wurde.“

Lukas resigniert. Sein Interesse ist nicht einmal mehr ausreichend, um die Frage aufkommen zu lassen, ob Wahn oder Genius sie zu solchen Ausführungen trieb. „Nach dem Vorfall wird die Stelle des großen Kastens gestrichen. Sein Vertrag wird nicht verlängert. Aus Gram erschießt er sich. Der flüssige Kadaver wird eingefroren und gelangt als Speiseeis portionsweise in den freien Handel.“

Orale Kopulation

Mit einem eigentümlich trockenen Geschmack im Mund und einer Leere hinterlassenden Funktionsverweigerung im Hirn begibt sich Lukas ins Nebenzimmer. Dort steht eine Whiskey-Flasche auf dem Tisch. Mit ihr gedenkt Lukas, den Abend zu beschließen. Rückblickend wird er angenehm überrascht feststellen, daß alles anders gekommen sein wird...

Sie ist blond, hübsch und notgeil. Beide sind besoffen. Sie macht sich wortlos über ihn her, indem sie seine Hose öffnet. Seinen Versuch, etwas zu sagen, unterbricht sie mit dem knappen Hinweis: „Ich find‘ lutschen total geil - dieses Zucken, kurz bevor er kommt - dann dieser herb-salzige Geschmack im Mund...“ und betätigt sich sofort dementsprechend. Nach kurzer Zeit nötigt sie Lukas‘ Schädel in Richtung ihrer Leistengegend herab.

Er wühlt sich unter ihren Rock und stürzt seinen Mund in Feuchtigkeit. Es riecht faulig und schmeckt wie ein Biotop. Trotzdem versenkt er pflichtbewußt seine Zunge. Erneut setzt sie ihn ihren oralen Aktivitäten aus, und während sich dieses Zwiegespräch fortsetzt, denkt er über die Einbeziehung kosmischer Dimensionen in das Denken nach. Er realisiert, daß es müßig ist, räumliche oder sonstige Größen beim Denken zu berücksichtigen, die sich außerhalb des menschlichen Erfahrungshorizonts und damit des Zugriffs seiner gedanklichen Leistungsfähigkeit befinden. Insofern ist nicht nur das Universum, sondern auch die Erde, die in ihrer Gesamtheit selbst für Weitgereiste nur eine abstrakte Angelegenheit bleiben kann, für das menschliche Denken eigentlich uninteressant. Ebenso verhält es sich mit dem Leben im allgemeinen, dem Ursprung und Zusammenhang allen Seins, der letzten Wahrheit und so weiter und so fort. Interessant bleibt für den Menschen das Leben der Menschheit, nicht der Menschheit als Bestandteil der Natur, eingebunden in den biologischen Kreislauf, sondern der Menschheit an sich. Erfahrbar, gelebt wird sie für den Einzelnen in dem Moment, der ersteres bedingt, der durch zweiteres ermöglicht wird und der dritteres voraussetzt: Sex!

Sein Pflichteifer weicht genußvollem Engagement. Alle ernsthaften Überlegungen können und dürfen also letztendlich nur um Sex ranken. Alle sonstigen Inhalte sind gleichgültig.

Alles, um solche zu transportieren, ist also ebenfalls gleichgültig, folgert Lukas, ejakuliert und verstummt für immer. (Leider erst jetzt! d. Säzzer)