Aufgestanden aus Ruinen

■ Kunstverein „Tacheles“ - ein Sonderfall in der Ostberliner Besetzerszene

Leo nimmt einen tiefen Zug aus seiner Selbstgedrehten. „Ich war ja damals mit dabei, beim Umsturz. Und als dann die Richtung, die die Sache nahm, langsam klar wurde, da wußte ich: Die Kultur wird das erste sein, was verschwinden wird. Jetzt kann's bloß noch darum gehn, zu retten was zu retten ist.“

Am 13. Februar besetzten KünstlerInnen aus Ost- und West -Berlin das Gebäude Oranienburger Straße 54-56 sowie zwei angrenzenden Wohnhäuser. Der besetzte Gebäudekomplex ist der traurige Rest des noch zu Kaisers Zeiten erbauten „Passage -Kaufhauses“, das früher einmal von der Friedrichstraße bis in die Oranienburger Straße reichte. Im relativ gut erhaltenen Teil Oranienburger Straße 54-56 war unter anderem bis in den siebziger Jahren das Studio-Kino „Camera“ untergebracht; seitdem steht das Haus leer und sollte im Zuge der realsozialistischen Erneuerung der Friedrichstraße geschleift werden.

Längst war die SED entmachtet, ihr bombastisches Bauprogramm auf dem Müllhaufen gelandet - doch die Mühlen der Bürokratie arbeiteten zuverlässig weiter. „Der Termin zur Sprengung stand schon fest“, sagt Leo leise, „wir sind sozusagenn im letzten Moment gekommen.“ Am 17. Februar wurde im Erdgeschoß ein Kontaktbüro eingerichtet - man will sich Öffentlichkeit schaffen. Ein „Aufruf zur Rettung des Kopfbaus der Friedrichstraßenpassage“ wird verbreitet, in einem Flugblatt taucht erstmals der „Verein Tacheles“ auf. „Wir haben uns den Namen 'Tacheles‘ bewußt als einen Begriff aus dem jiddischen Sprachgebrauch gewählt. Wir solidarisieren uns mit allen durch politische, ideologische, und ökonomische Machtverhältnisse unterdrückte Randgruppen und versuchen mittels Kunst neue Wege zu beschreiten. Eine Demokratie erweist sich nur insoweit als tragfähig, wenn auch Minderheiten Gehör finden, will sie keine verschleierte Diktatur der Mehrheitsverhältnisse sein.“

Am 21. Februar nahm der Verein mit dem Rechtsträger, der Baudirektion Mitte Komtakt auf. Doch die Herren hatten ihren einmal einstudierten Text noch längst nicht vergessen - das Gebeude sei einsturzgefährdet und damit basta! Noch am 6. März stellten Bauarbeiter im bewohnten Nebenhaus Oranienburger 53 Strom und Gas ab und durchtrennten Telefonleitungen - Begründung: Abrißvorbereitungen. Parallel dazu liefen die Sprengvorbereitungen weiter, als sei die ursprüngliche Planung von den übrigen Ereignissen in der DDR völlig unberührt.

Doch unbeeindruckt davon macht „Tacheles“ weiter. Bauzaun und Außenfassade werden bemalt, ein provisorischens Straßencafe wird eröffnet, eine erste multi-mediale Großveranstaltung „Aufgestanden aus Ruinen“ findet bei den Besuchern großen Anklang. Architekten und Statiker - von Tacheles um ein Urteil über den baulichen Zustand des Projektes gebeten, bescheinigen der Stahlbetonkonstruktion Standfestigkeit. Am 5.April schließlich bringt „Tacheles“ einen Dringlichkeitsantrag an den Runden Tisch von Berlin ein. Da endlich werden die Sprengungsvorbereitungen eingestellt.

Nun wird das Gebäude Schritt für Schritt „erobert“. Skulpturen und Bilder aus vorgefundenen Materialien entstehen, öffentliche Veranstaltungen im Zusammenspiel verschiedener Ausdrucksformen werden organisiert (Theater, Performance, Filmvorführungen, Dia-shows, Konzerte, Ausstellungen) - Hunderte von Unterschriften bestätigen dem Projekt öffentliche Unterstützung. Am vierten Mai wird „Tacheles“ endlich ein Nutzungsrecht des Objekts in Aussicht gestellt.

Am 1. Juni dann der große Schock. Rund achtzig Skinheads überfallen das Haus, prügeln auf wehrlose Gäste ein - ein Künstler, der nicht rechtzeitig flüchten konnte, wird von einem Molotwcocktail schwer verletzt. Die Täter können unerkannt entkommen. Daraufhin wird eine Sicherheitspartnerschaft mit der Volkspolizei abgeschlossen, der Verein Tacheles formuliert eine strikte Absage an jede Art von Gewalt - „wir sind Künstler!“.

Nach den Aufräumungsarbeiten wird der Kulturbetrieb fortgesetzt. Das endgültige Schicksal von „Tacheles“ ist aber noch immer nicht klar.

„Ich glaub schon“, sagt Leo nachdenklich, „daß die wenigen kompetenten Leute, die da noch im Magistrat sitzen, ein Interesse am Weiterbestehen von 'Tacheles‘ haben. Ich hab da Hoffnung. Doch.“

Olaf Kampmann