Bäume mit Knoten im Stamm

■ Klage eines Ostberliners über den Verlust an Mangel

„Der schiffbrüchige Schlemmer, der Trunkenbold in der Wüste und der Geile im Gefängnis sind die Glückseligen. Schrecklichen Hunger, Durst und Lust haben, jeden Tag von neuem und jeden Tag vergebens, auf den alten Fraß, das alte Gesöff, den alten Puff, ebendas heißt der Glückseligkeit am nächsten sein, das ist die neue Säulenhalle und der allerneueste Garten. Ich gebe diesen Tip weiter, was immer er wert sein mag.„Samuel Beckett

Vor ein paar Jahren, als ich Alice im Cafehaus an der Schönhauser Allee traf und rundherum die Szene sich auf den Abend eindeprimierte, kam die leicht Betrunkene auf die herrliche Idee, die Tischdecke anzuzünden. Alle waren happy, einschließlich der Kellnerin: endlich passierte mal was! Dann mußte Alice leider gehen, nach Hause, um ihre Musik anzuhören (this mortal coil, glaube ich. „Weißt du, deshalb brauchen wir Musik, weil wir so traurig sind“, war ihr letzter Satz. Dann schritt sie erhobenen Hauptes die Treppe hinab, ganz ohne zu torkeln. Great!

Ich denke jetzt daran, weil ich gerade mal wieder The Cure höre und mich erinnere, wie sehr ich mich als Zoni manchmal danach gesehnt habe, in einen richtigen Schallplattenladen zu gehen. Da haben wir uns hier von Samstag zu Samstag gehangelt, bis es wieder John Peel's Music und die Nachtschicht mit Alan Bangs gab, haben The Fall, XTC oder die Cocteau Twins auf billigen Rekordern mitgeschnitten, um Konserven für die nächste durstige Woche zu haben. Und waren ständig auf der Suche nach dem sympathischen Gleichgesinnten, der seine Omi schon dazu gebracht hatte, eine Platte von den Swans mitzubringen.

Und wo ist das alles hin? Mit der DDR-Identität verschwindet all die schöne Sehnsucht, die nur im Mangel so echt stark sein kann. Wenn man jetzt mal ein Tief hat, ist das Problem ein ganz anderes, nämlich zu entscheiden, ob man sich die neue Scheibe von Dead Can Dance oder endlich die Live-LP von Phillip Boa leistet. Die dreht sich dann dreimal, und man braucht wieder neuen Stoff. „Denn Glück ist kurzatmig und ruhelos, so scheint mir“, sagt Boa. Was ehemals im Mangel verbunden war, überbietet sich jetzt im Kaufrausch. Wer noch keinen CD-Player zu Hause hat, kann doch bloß noch als armer Hinterwäldler angesehen werden. Wir haben unseren Mangel hoffnungslos verloren!

Es wird natürlich nichts mehr getauscht, nur noch aufgetrumpft: „Waas, den Film hast du noch nicht gesehen?“ Auch auf Parties klemmt es unerträglich, seit der kommunikationsfördernde Moment wegfällt, in dem einem die Zigaretten ausgehen, weil natürlich jeder was zum Selbstdrehen dabei hat. Es ist überhaupt nicht mehr spannend, Leute kennenzulernen, die vielleicht die gleiche Sucht nach Musik oder Literatur und daher etwas zum Tauschen haben könnten. Jeder kauft sich seins und wacht eifersüchtig darüber, daß nur er so gut drauf ist. Zum Austausch kommt es auch deshalb nicht, weil der schon verbal blockiert ist. Man sagt sich nur noch Allerweltsdinge und probt den coolen Blick, den man in Westberliner Cafes zuerst für eine Art Schlaf gehalten hat. So gründet sich die neue Identität der Dauerhypnose. Seit der Mangel knapp geworden ist, genießen wir den Überfluß der Verluste.

Gewöhnlich bekommt man an dieser Stelle gesagt, daß man doch bitte die Nabelschau gefälligst lassen und sich mal auf globale Probleme konzentrieren solle. O ja, das macht uns glücklich! Natürlich kann man nicht gleich alle Hungerleider in seine Anderthalb-Zimmer-Wohnung zum Nudelkochen einladen, aber eine gewisse Anteilnahme sollte man schon zeigen. Am besten so, daß man auch selbst etwas davon hat. Ich habe mir mein individuelles Globalchen schon gefunden: die Muster in den englischen Kornfeldern werden immer schöner, darüber freue ich mich wirklich von Herzen. Das bei Zweitausendeins angekündigte Buch werde ich mir schon morgen kaufen, aber selbst hinfahren ... nee, um keinen Preis! Lieber sitze ich zu Hause und genieße die wohlige Sehnsucht, mal dort sein zu können, wo sich das Getreide (wohl aus ganz einfacher ästhetischer Schwäche) zu Ornamenten legt. Wenn da aber wirklich eine fremde Intelligenz dahintersteckt, wird es sicher auch bald passieren, daß ich am Morgen zur Arbeit gehe, und die Bäume am Straßenrand haben alle einen Knoten im Stamm. Darauf freue ich mich und habe einen regelrechten Durst auf soviel unerfülltes Glück. Oder das Gras nudelt sich mal an einem langweiligen Sonntag zu PDS-Schnörkeln. Es wird dann, wenn sich diese Ahnung erfüllt, etwas anders in der Gegend hier aussehen. In das Land, in dem ich aufgewachsen bin, komme ich ohnehin nie zurück. Vielleicht ist das der schönste Mangel, an dem wir jetzt leiden können. Man sollte optimistisch sein. Im Überfluß.

Fritz Viereck