Gegen den Stau hilft auch kein Tunnel im Tiergarten

■ Senatsgutachten belegen, daß der Kollaps des Berliner Autoverkehrs nicht mehr aufzuhalten ist. Trotzdem plant Verkehrssenator Wagner neue Straßen im Tiergarten und einen Stadtring rund um die Ostberliner Innenstadt. Die Kreuzberger Baustadträtin Franziska Eichstädt-Bohlig und Umweltsenatorin Michaele Schreyer wollen das verhindern.

HANS-MARTIN TILLACK

BERLIN

Das Brandenburger Tor wird vom Autoverkehr umspült wie im großen Metropolen-Vorbild Paris der Arc de Triomphe. Natürlich mußten einige Bäume des Tiergartens gefällt werden, um Platz für die Fahrbahnen zu schaffen, die jetzt nördlich und südlich um das Schicksalsbauwerk herumführen. Durch zwei - leider immer sehr verschmutzte Fußgängertunnel gelangen die Touristen aus aller Welt trotzdem wie früher unter die Säulen des Tors. Einige hundert Meter weiter östlich tost wie eh und je der Autoverkehr über die mittlerweile sechsspurig ausgebaute Entlastungsstraße. Die nach dem Mauerbau 1961 in wenigen Wochen als Provisorium asphaltierte Trasse wurde nach dem Fall der Mauer nicht etwa aufgegeben, sondern Anfang der 90er Jahre noch ausgebaut. Jetzt verläuft die Straße zwischen Philharmonie und der Straße des 17. Juni in einem tiefen Trog. Gedacht war dieser halboffene Tunnel, um Fußgängern und Radfahrern die Überquerung zu erleichtern. Die unschöne Folge dieser bürgerfreundlichen Planung: Um den Tunnel mit der Straße des 17. Juni zu verbinden, mußten breite Betonrampen für die Abbiegespuren gebaut werden. Bundeskanzler Walter Momper, der diese Planung noch als Regierender Bürgermeister gegen den erbitterten Widerstand seines damaligen Koalitionspartners AL durchgedrückt hatte, kann heute ein Lied von den Folgen singen.

Mit lauten Hustenanfällen unterbricht Momper immer wieder die Sitzungen in seinem Bundeskanzleramt neben dem Reichstag. Er leidet schwer unter dem Lärm und den Abgasschwaden. Schwierigkeiten, die Straße zu überqueren, hat er trotzdem nicht. Die zahllosen Autos und Laster kommen selbst in den verkehrsschwachen Zeiten bestenfalls im Schrittempo voran.

Den Dauerstau auf der Entlastungsstraße gibt es heute schon, Walter Momper ist noch nicht Reichskanzler - aber im übrigen könnte diese Vision bald schon Wirklichkeit werden. Am Dienstag wird SPD-Verkehrssenator Horst Wagner dem Senat ein entsprechendes Verkehrskonzept für den sogenannten Zentralen Bereich rund um den Tiergarten vorlegen. Kernpunkte:

-Die Entlastungsstraße wird beibehalten. Weil die Trasse nach wie vor ein Provisorium ist, müßte sie bald gründlich um- und ausgebaut werden. Professor Günther Hoffmann von der Technischen Universität (TU) hat in einem Gutachten, auf das sich Wagner jetzt beruft, bereits den Bau eines „halboffenen Tunnels“ vorgeschlagen.

-Die Entlastungsstraße wird - wie von Gutachter Hoffmann empfohlen - als Teil eines großen Stadtrings betrachtet. Dieser Ring soll, wie berichtet, über Potsdamer Straße, Kanaluferstraßen, Skalitzer-, Warschauer-, Bersarin-, Dimitroff-, Bernauer- und Invalidenstraße rund um die alte Innenstadt führen. Zum größten Teil existieren diese Trassen heute schon. Zwischen der Bernauer- und der Invalidenstraße müßte allerdings eine Verbindung erst geschaffen und die Oberbaumbrücke in Kreuzberg müßte wiederhergestellt werden.

-Das Brandenburger Tor, heute noch eine Barriere für den Autoverkehr, bekommt eine „Umfahrung“.

-Die Leipziger Straße wird zwischen Friedrichstraße und Potsdamer Platz sechsspurig ausgebaut. Damit würde nicht nur der historische, achteckige Grundriß des Leipziger Platzes beschädigt, es müßten auch zwei Häuser entlang der Leipziger Straße abgerissen werden.

Gegen Wagners Pläne gibt es jetzt schon Widerstand. „Soll Kreuzberg im Stau ersticken?“ fragt die AL-nahe Kreuzberger Baustadträtin Franziska Eichstädt-Bohlig in einem offenen Brief. Auch das Büro für Verkehrsplanung des Ostberliner Magistrats hat Vorbehalte. Grundsätzlich plädieren die Ostberliner Planer zwar für eine autofreundliche Planung, sie wehren sich jedoch gegen die Umfahrung des Brandenburger Tors: „Hier müssen wir nach anderen Lösungen suchen“, sagt Verkehrsplaner Wolfgang Dittrich.

Bei der Wagner-Vorlage handele es sich ja nur um eine „Grobskizze“, wiegelte Sprecher Rudolf Steinke gestern ab. Entschieden werde am Dienstag noch nichts. Das Konzept soll nur den städtebaulichen Wettbewerb vorbereiten, den Senat und Magistrat im Oktober für den Potsdamer und Leipziger Platz ausschreiben wollen. Umweltsenatorin Michaele Schreyer läßt sich damit jedoch nicht beruhigen. Ihre Mitarbeiter fürchten, daß jetzt die Vorentscheidungen für ein künftiges Verkehrskonzept für die ganze Innenstadt fallen könnten. „Da sind wir dagegen“, bekräftigt Schreyer-Referentin Beate Profe. Sie plädiert nach wie vor dafür, die Entlastungsstraße ersatzlos zu streichen, die Ebertstraße auf dem Mauerstreifen lediglich für den örtlichen Verkehr zu öffnen und den Durchgangsverkehr aus dem Tiergarten zu verbannen.

Gutachter Hoffmann hatte - wie berichtet - selbst prophezeit, daß ein Straßenausbau eigentlich nichts bringt. Egal, welche Variante realisiert wird: Zu den Spitzenstunden am späten Nachmittag würden trotzdem „nahezu alle bedeutenden Knotenpunkte auf lange Zeit am späten Nachmittag hoffnungslos überlastet und der Straßenverkehr würde im gesamten Planungsgebiet zusammenbrechen“.

Selbst diese pessimistische Prognose basiert noch auf optimistischen Grundannahmen: Hoffmann geht bei seinen Berechnungen davon aus, daß es gelingt, weit mehr Autofahrer als heute zum Umsteigen auf Bus und Bahn zu bewegen. Um den totalen Kollaps zu verhindern, rät der eigentlich autofreundliche Gutachter zu einer strikten Anti-Auto -Politik: Ein „hervorragendes Angebot“ im öffentlichen Nahverkehr müsse her und eine „äußerst restriktive Parkraumbewirtschaftung“. Zu deutsch: Der Senat soll den Autofahrern die Parkplätze wegnehmen.

Wenn sowieso alles zusammenbricht, fragt sich deshalb Beate Profe, muß man dann „dafür wirklich eine solch aufwendige Lösung bauen?“ Freilich steckt die Umweltverwaltung selbst in einem kleinen Argumentationsstau. Wenn im Zentralen Bereich nichts für den Autoverkehr getan wird, dann fallen die PKW-Lenker auf der Suche nach Schleichwegen verstärkt in den Ostberliner Innenstadtstraßen ein; gerade der Potsdamer Platz würde vom Verkehr geradezu überflutet. Die Schreyer -Experten müßten deshalb ein Verkehrskonzept für die gesamte Berliner Innenstadt vorlegen, vergleichbar dem berühmten „Stockholmer Modell“.

Dieses Konzept fehlt. Die AL-Planer trösten sich vorerst mit einem pikanten Detail des Hoffmann-Gutachtens. Ein „Schwachpunkt“ jeder Variante wäre nach Ansicht des Professors die „Überlastung“ der Potsdamer Straße zwischen Potsdamer Platz und Kanaluferstraßen. Abhelfen könnte eine Straßenverbindung, die die Autoströme schon östlich der Staatsbibliothek zum Kanalufer führen würde. Diese Idee von Hoffmann kann nicht mehr realisiert werden: Laut Senatsbeschluß baut genau hier Daimler-Benz.