ZEIT UND LANGEWEILE

■ In Puerto Ayacucho fängt der Tourismus erst an

In Puerto Ayacucho fängt der Tourismus erst an

VON JULIA SCHMIDT

Cruz fällt auf. Er kleidet sich anders als die meisten jungen Leute von Puerto Ayacucho, der kleinen Hauptstadt des Departados Amazonia im Süden Venezuelas. Cruz mag gelbe Hemden mit kleinen schwarzen Karos, dazu Jeans und Turnschuhe - made in USA. Und er spricht fließend englisch. Ob er im Cafe an der Plaza Bolivar sitzt oder in seinem rotem Ford Pick-up durch die schmalen Gassen rollt, ist eigentlich egal. An jeder Ecke trifft er jemanden, Freunde oder Reisende, mit denen er unbedingt einen Plausch halten muß.

Cruz ist in das Tourismusgeschäft eingestiegen. Mit wenig Aufwand zeigt er den Reisenden sein Land. Cruz braucht keinen imitierten Indioschmuck oder auffällige Reklameschilder mit nackten Eingeborenen, um für sich zu werben. Er fährt auch nicht mit dröhnenden Lautsprechern vor die Hotels, um reiche - vornehmlich nordamerikanische Touristen auf seine Ladefläche zu packen. Cruz macht seine Geschäfte lieber auf der Straße - über Mundpropaganda. Man trifft ihn meist in der kleinen Eckkneipe am Hauptplatz, der Infobörse schlechthin für Touristen und Traveller. Dort werden dann bei einigen Bierchen Preis und Route ausgehandelt.

Am nächsten Morgen soll es losgehen. Alles, was man brauche, sei ein Moskitomittel, sagt Cruz. Sonst nichts. Offenbar ist alles andere bereits vorhanden. Satte 50 US -Dollar will Cruz für den zweitägigen Trip auf eine einsame Insel mitten im Orinoco haben - warme Mahlzeiten und Übernachtung inklusive. Eigentlich ist Cruz ein studierter Grundschullehrer, „aber damit verdiene ich nicht genug zum Leben“, meint er. Im Tourismusgeschäft kassiert Cruz an einem guten Tag soviel wie in einem Monat als Lehrer.

Gut zehn Kilometer fährt der Pickup über die staubige Straße. Zu beiden Seiten ragen über den hohen Baumwipfeln runde Felshügel hervor - kleine tepuis aus schwarz -braunem Gestein, die von den Indianern als Götterberge verehrt werden. Dicke Wolken treibt der Wind über den Himmel, trotzdem flimmert die feuchte Luft vor Hitze, und die Sonne brennt ihre Strahlen in die Haut. In der Regenzeit während der Sommermonate sind Teile der Straße weggespült. Lehmig flutet dann der mächtige Orinoco über seine Ufer und überschwemmt das umliegende Land. Die einzige Straße nach Puerto Ayacucho verwandelt sich in dieser Zeit in einen Schlammpfad, auf dem sogar geländegängige Spezialbusse absaufen.

Cruz‘ Eltern leben mit ihren anderen Kindern unten am Orinoco in einer Bretterhütte. Cruz hat Glück gehabt: Während seine Geschwister nicht einmal lesen und schreiben können, weil sie den Eltern bei der Arbeit helfen müssen, hat er ein staatliches Stipendium für eine Universität in Kalifornien erhalten. Dort hat er sein Englisch gelernt. „Das ist mein Kapital hier“, sagt Cruz, denn die meisten Touristen kommen aus Nordamerika.

Land der unbegrenzten Geschäftsideen

Vor zwei Jahren kehrte Cruz aus der kalifornischen Sonne zurück; für ihn ist Venezuela das Land der unbegrenzten Geschäftsideen. Mit einem Freund hat er in Puerto Ayacucho eine travel agency gegründet, die den Touristen Trips in das Gebiet des Orinoco und mehrtägige Dschungelexpeditionen „einmal anders“ anbieten will. Das Geschäft floriert.

Wie Cruz versuchen viele gewiefte Venezolaner, mit solchen Eigeninitiativen im ehemals reichsten Land Lateinamerikas an Geld zu kommen. Bis Anfang der achtziger Jahre spielte der Tourismus in dem Ölland kaum eine Rolle. Erst als der Preis für Öl rapide sank, kurbelte die Regierung die Tourismusindustrie an, in der Hoffnung, dadurch neue Arbeitsplätze zu schaffen. Pipelinewärter führen jetzt lieber Touristen durchs Land - Hauptsache, das Konto stimmt, und die Familie wird satt.

Auf verschlungenen Pfaden durch das Dickicht erreicht der Pickup endlich den hier fast 300 Meter breiten Orinoco. Paolo wartet schon. Der zierliche Indio lebt mit seiner Frau und sechs Kindern auf der Insel. Cruz gibt ihm 300 Bolivar pro Besucher, ein Fünftel vom Gesamtpreis. Dafür beherbergt Paolo die Touristen. Von dem Geld kann er seine siebenköpfige Familie ernähren.

Nur die einfache Wellblechhütte zeigt, daß auf dieser Insel Menschen leben. Das Dach ist mit trockenen Palmenblättern bedeckt - gegen die Hitze. Waschen kann man sich am Orinoco. Eine Toilette braucht man hier nicht; die Insel ist groß genug. Paolos Frau kocht unser Essen auf einer Öltonne. Die ganze Familie und auch die verwöhnten Gäste schlafen in Hängematten mit Moskitonetz, wichtiges Utensil, besonders nachts, wenn Schwärme der aggressiven Stechfliegen ihre Opfer unter den weißhäutigen Touristen suchen. Alles Wesentliche für einen wirklich „natürlichen“ Urlaub ist da. Die Insel bietet Aufregenderes als den üblichen Komfort gechlorter Swimmingpools.

Tourismus nimmt den Dschungel in Besitz

Klotzige Hotelburgen stehen in Venezuela nur auf der Isla Margarita und an der 2.700 Kilometer langen Karibikküste. Im Hinterland, das mit Straßen oder Bahn noch kaum erschlossen ist, setzt sich der Massentourismus nur schwer durch. Experten hoffen jedoch auf den Flugverkehr. Venezolanische Reiseunternehmer haben längst das große Geschäft gewittert: sie bieten Flüge mit winzigen Propellermaschinen in völlig unwegsame Gegenden an, etwa zum Salto Angel, dem höchsten Wasserfall der Welt. Die staatlichen Inlandsfluggesellschaften Avensa und Aeropostal hingegen spucken die Touristenmassen mehrmals täglich am einzigen Flughafen im Süden des Landes aus, auf dem kleinere Boeings landen können: Puerto Ayacucho, Cruz‘ Heimatstadt. Langsam nimmt der Tourismus den Dschungel in Besitz.

In der 10.000-Einwohner-Stadt Puerto Ayacucho gab es bis vor kurzem keinen Fremdenverkehr. Interessant war die Indiostadt einst nur für Goldgräber, die sich von hier in den unerforschten Urwald schlugen - auf der Suche nach dem wertvollen Metall. Heute vermietet fast jede Familie in der ehemaligen Pioniersiedlung einfache habitaciones - oft bestehen sie nur aus einer Hängematte, ein Moskitonetz ist das äußerste an Luxus.

Das Leben in der Hauptstadt der Region Amazonien ist bereits vom Geschäft mit den Fremden bestimmt. Entlang der Straßen, in denen verlauste, kranke Köter im Abfall wühlen, werben knallige Schilder für Expeditionen in Amazonien. Jeder Mann, ob jung oder alt, der einen Geländewagen oder ein Boot besitzt, versucht sein Glück als guida touristica. Zwischen Holzkäfigen, in denen zerrupfte Hühner in ihrem Kot sitzen, vor schmuddeligen Straßenkneipen und Marktbuden, an denen Indios ihre Korbwaren verkaufen, werden die Fremden angesprochen.

Sogar bis nach Caracas hat es sich inzwischen herumgesprochen, daß in Puerto Ayacucho ein junger Mann lebt, der über mehr Qualitäten im Tourismusgeschäft verfügt, als es im Dschungel üblich ist. Nicht nur Organisieren gehört zu Cruz‘ Job, sondern auch das Dolmetschen. Außer Englisch spricht Cruz mehrere indianische Idiome. Vor einem halben Jahr, erzählt er stolz, wurde er von einem Reiseveranstalter aus der Hauptstadt an einen deutschen Arzt empfohlen. Der Homöopath wollte den Stamm der Waikas besuchen, weil er die Naturheilkunst der Indianer kennenlernen wollte. Cruz hat alles gemanagt. Inzwischen arbeitet Cruz eng mit dem Veranstalter aus Caracas zusammen.

Auf der Insel ist es ruhig. Nur das reißende Wasser und der Wind brechen die Stille. Friedlich und einsam präsentiert sich das Ende der Welt auf diesem Stück Land an der Grenze zu Kolumbien. Das einzige Programm heißt Zeit - und Langeweile. Wer den Frieden nicht erträgt und unruhig wird, kann sich mit einem Buschmesser durch den Urwald der Insel schlagen oder im lauwarmen Orinoco planschen. Piranhas oder Alligatoren gibt es hier nicht; dafür erzählt Paolo, er habe vor einer Woche ein Leopardenbaby gesehen. Leoparden kommen öfter, wenn sie Appetit auf Gürteltiere haben, die auf der Insel leben.

Cruz erzählt von seinen Zukunftsplänen. Bevor der Tourismus noch massiver in Amazonien einfällt, will er sich dieses Stück Natur für sein Geschäft sichern. Einen Antrag an die Regierung, die Insel unter Naturschutz zu stellen, hat er bereits eingereicht. Ob er sie dann jedoch auf Lebenszeit pachten kann, ist noch nicht klar. Eigentlich, meint Cruz, will er nicht sein Leben lang guida touristica bleiben, sondern Kinder unterrichten. Sein Traum ist, sagt Cruz, später mal in Puerto Ayacucho eine Schule zu gründen, in die alle Kinder gehen können - auch seine Geschwister und die Kinder von Paolo. Aber um sich diesen Wunsch zu erfüllen, muß er noch oft Touristen auf die Insel bringen.